TEXT Ronya Othmann, D

Ronya Rothmann liest auf Einladung von Insa Wilke den Text „Vierundsiebzig“. Sie finden hier einen Auszug des Textes und den gesamten Text zum Nachlesen im .pdf-Format.

Vierundsiebzig August 2014 sitze ich vor dem Fernseher. Ich sehe Frauen in den Kleidern meiner Großmutter, meiner Tante, meiner Cousinen, sehe Männer wie meinen Großvater, meinen Vater, Onkel, meine Cousins um ihr Leben rennen. Es ist Hochsommer. In den Bergen verdursten Kleinkinder, Alte, Kranke. Shingal ist umzingelt. Die Männer und die älteren Frauen, die es nicht schaffen zu fliehen, töten sie, die jüngeren Frauen und Kinder nehmen sie mit als Kriegsbeute, verkaufen sie weiter auf den Sklavenmärkten für die Kämpfer des IS. Frauen, die meinen Namen tragen, den meiner Schwester, meiner Cousine.

An den August 2014 kann ich mich nicht mehr erinnern. Später schreibe ich, ich sitze vor dem Fernseher. Weil ich weiß, dass ich vor dem Fernseher saß. Ich weiß auch, was ich sah. Aber an das, was ich sah, kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich schreibe, wie ich auf dem Sofa im Wohnzimmer meiner Eltern sitze, dass ich erst dusche oder esse, wenn mir auffällt, wie lange ich es nicht mehr getan habe. Jedes Schreiben ist für mich Fiktion. Ob ich über mich schreibe, meinen Vater, meine Großmutter oder eine Figur, der ich einen Namen gebe und eine Geschichte.

2014 habe ich die êzîdische Abgeordnete Vian Dakhil bei ihrer Rede vor dem irakischen Parlament gesehen, wie sie versuchte, das, was in Shingal geschah, in Worte zu fassen, dann mitten in ihrer Rede zusammenbrach und von zwei Parlamentarierinnen aus dem Saal getragen wurde. Ich habe den Moderator und den zugeschalteten Reporter im kurdischen Fernsehen gesehen, die, anstatt von Shingal zu berichten, zu weinen anfingen. Die Sprachlosigkeit ist hier offensichtlich. Angesichts der Gräueltaten und ich streiche das Wort Gräueltaten angesichts der Verbrechen und ich streiche das Wort Verbrechen, weil sowohl das Wort Gräueltaten als auch das Wort Verbrechen nicht tragen. Angesichts dessen, was 2014 in Shingal geschah und was die Vereinten Nationen und das Europäische Parlament später Völkermord nannten, versagt die Sprache.

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