TEXT Andrea Gerster, CH

Andrea Gerster liest auf Einladung von Hildegard E. Keller den Text „Das kann ich“. Sie finden hier einen Auszug des Textes und den gesamten Text zum Nachlesen im .pdf-Format.

Julia will kein gemeinsames Sorgerecht, sagt Mathi. Sie habe ihre Gründe. Mathi ist mein Sohn und Tilli mein Enkel. Nicht zu vergessen Julia, meine Schwiegertochter. Mathi weint am Telefon. Er hat noch nie geweint am Telefon. Ich kann ihn nicht trösten. Am Telefon geht das schlecht.

Ich muss los, um Julia nach den Gründen zu fragen, denn beim Sorgerecht habe auch ich mitzureden. Von Anfang an kümmerte ich mich um Tilli. Und um Mathi sowieso. Julia arbeitet viel. Sie operiert Leute, deren Hauptschlagader irgendwo zwischen Gehirn und Becken zu platzen droht. Es sind heikle Eingriffe, die meistens Stunden dauern. Julia trägt Schuhe mit hohen Absätzen. Auch beim Operieren. Auch in der Nacht, was oft vorkommt. Aneurysmen sind Zeitbomben, sagt Julia. Da müsse man sofort handeln. Manchmal sterben ihr die Leute unter den blutigen Händen weg. Ich trage Handschuhe, würde Julia sagen. Einige sterben später auf der Intensivstation, andere die Tage danach oder im ersten Jahr nach der Operation. Die meisten aber überleben, sagt Julia. Das Alter sei ein Risikofaktor.

Sterben gehört zu Julias Alltag. Soeben ist etwas in mir gestorben, das werde ich nun rückgängig machen. Sterben kann man nicht rückgängig machen, würde Julia sagen.

Bis Sonntag, Mutter! Mathi hatte sich fröhlich angehört, und ich hatte mich darauf gefreut, Julia kennenzulernen. Mathi hatte damals ein Engagement am Burgtheater und war an der Premierenfeier Julia begegnet. Bestimmt hatte er geleuchtet und gesprüht und geredet und gelacht. Ich kenne das. Auf der Bühne wird er zu einem anderen. Ich mag beide Seiten an ihm und bin davon ausgegangen, dass dies auch bei Julia so ist und bleiben würde.

Die Teekanne hatte ich vorgewärmt. Das Wasser war weich. Für mich einen Kaffee, bitte, sagte Julia plötzlich, dabei hatte ich sie gar nicht gefragt. Und als ich ihr vom selbstgebackenen Kuchen anbot, lehnte sie mit einer Selbstverständlichkeit ab, die mich irritierte.

Es ist doch ganz einfach, Mutter, erklärte mir Mathi später: Julia trinkt keinen Tee, mag nichts Süßes und isst kein Fleisch.
So einfach, wie Mathi angenommen hatte, war es eben dann doch nicht. Ich stolperte über Rindsbrühe im Risotto, Kälberlab im Käse und auch beim Rotwein gab es Probleme. Julia lächelte darüber hinweg, aß Salat ohne Sauce und trank Leitungswasser dazu. Nachdem Tilli geboren war, stellte sich heraus, dass es auch für ihn nichts Süßes geben würde. Und kein Fleisch. Mathi packte Vorgekochtes in meinen Kühlschrank, wenn er das Kind zu mir brachte.

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