TEXT Ines Birkhan, A

Ines Birkhan liest auf Einladung von Nora Gomringer den Romanauszug „abspenstig“. Sie finden hier einen Auszug des Textes und den gesamten Text zum Nachlesen im .pdf-Format.

Während die einen Kiefer ausgebildet hatten, gab es andere, die schädellos geblieben waren. Ihnen fehlte sowohl die knöcherne Schädelstruktur als auch ein Gehirn, eine Wirbelsäule oder Extremitäten. Sie waren äußerst erfolgreich und bewegten sich, wenn überhaupt, schlängelnd fort. Meist lagen sie im Schlamm vergraben und streckten ihre geöffneten Münder hervor, um Plankton und zerfallendes organisches Gewebe aus dem Wasser zu filtern.

Die Kieferlosen waren nicht Schädellose und die Schädellosen, obwohl sie keinen Schädel besaßen, Neumünder. Während Urmünder wie der Ringelwurm immer nur den einen Mund hatten, entwickelte sich bei den Neumündern ein After aus dem Urmund und der Mund entstand neu. Bei den Urmündern aber bildete sich der After neu aus.

Nur selten blieb eine Kotspur erhalten. Urmünder wie Pfeilschwanzkrebse, Seespinnen, Trilobiten, Schnecken und Ringelwürmer bevölkerten den Boden. Gemeinsam mit den Neumündern entwickelten sie eine Schrift. Doch ihre Kriech- und Kotspuren wurden vom merkwürdigen Gliederfüßer Mimetaster verwischt. Er war ein Scheinstern und rückte immer in Gruppen an.

Der Trilobit Phacops rana betrachtete den Vorgang durch seine Facettenaugen. Dort zerfielen die Bewegungen der Mimetaster in über fünfzehntausend Einzelbilder. Ausschnitte von Beinen, Antennen und sternförmigen Körperschilden formten symmetrische Muster wie in einem Kaleidoskop.

Bei den Neumündern hatte sich ein After aus dem Urmund gebildet. Etliche von ihnen waren Schädellose. Sie lebten ohne Gehirn, Wirbelsäule oder Extremitäten und waren äußerst erfolgreich. Der Neumünder Yoda perspicua hatte auch keine Extremitäten, trotzdem war er kein Schädelloser. Er war ebenfalls erfolgreich. Tag für Tag fraß dieser frühe Eichelwurm hundertfünfzig Gramm Sand, den er wieder ausstieß, nachdem er alles Verwertbare herausgefiltert hatte. Während Yoda eine Kotspur in Form einer Spirale ablegte, schwebte eine Schar Kopffüßer vorbei. Sie streckten ihre Tentakel aus und beäugten den Sandkringel. Danach zogen sie sich wieder in ihre Wohnkammern zurück.

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