Jurydiskussion Martina Clavadetscher

Als erste der zwei Schweizerinnen, die dieses Jahr am Ingeborg-Bachmann-Bewerb teilnehmen, betrat Martina Clavadetscher den Ring. Eingeladen wurde sie von Hildegard Keller mit ihrem Text „Schnittmuster“. Klaus Kastberger wählte seinen besten ersten Satz.

Ihr rhythmischer Text „Schnittmuster“ verstößt gegen die Grenzen der Realität und schildert das Ableben einer ehemals attraktiven Frau, die Schönheit als Fluch wahrnimmt. Als Ich-Erzählerin charakterisiert sich die nunmehr tote Luisa mit Metaphern aus dem Nähjargon. Sie sei Schnittmusterschülerin gewesen, begehrt und schließlich vergewaltigt. Mit dem Tod befreit sie sich vom Menschenmäntelchen. Ihre Enkelin soll ihr Gegenteil sein, soll sich wehren.

Martina Clavadetscher

ORF/Johannes Puch

Martina Clavadetscher

Wiederstein: Ein Drittel kürzen

Zu Beginn der Diskussion zum zweiten Text des Tages meldete sich Michael Wiederstein zu Wort. In seiner Rede am Mittwochabend habe Feridun Zaimoglu die geknechteten Frauen erwähnt. Ganz viel aus seiner Rede komme heute auch zur Sprache, nicht zuletzt Vergewaltigung und Knechtung von Frauen. Im Text fand er unter Anderem Anklänge an die letzte Frau, die in der Schweiz als Hexe hingerichtet wurde. Zwei Erzählperspektiven würden hier in Dialog treten. Die beiden Ebenen würden sich aber hier „besser triggern“ als in Edelbauers Text „Das Loch“, jedoch sei die Metaphorik überfrachtet. Der Text wirke „holzschnittartig“ und gezwungen. „Ein Drittel kürzen“, befand er. Das Ende tue der Geschichte nicht gut.

Booklet 2018

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„Viel Kraft“ in Perspektive

Nora Gomringer mochte die Perspektive sehr, sie habe viel Kraft. Sie sehe zwei Texte in dem Werk und hätte dem Text ein Ende gesetzt, wo das Objekt Feuer fängt und bevor er in die „indianische Aufbruchsstimmung“ kippt. Sie störten ein paar Dinge, wobei sie sich fragte, ob es vielleicht dennoch mit der Erzählperspektive der alten Person zu tun habe. Die Erzählerin habe vielleicht nicht mehr aus sich selbst machen können. Was sie „irre finde“, sei das ständige Missverständnis zwischen der Großmutter und der Enkelin.

Wilke Kastberger

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Kastberger, Wilke

Kastberger noch unentschieden

Klaus Kastberger betitelte „Das letzte Schnappen macht den Unterschied“ als den besten ersten Satz. Bezüglich dem Rest sei er unentschieden. In der Literatur würden Tote meist noch ein direktes Zwiegespräch mit Lebenden führen. Hier habe er das Gefühl, die Lebenden würden vom Gesagten unberührt bleiben, die Erzählung sei eher ein Monolog. Er würde gerne hören, was die anderen Jurymitglieder zu sagen hätten. Was ihn versöhnlich gestimmt habe, sei die glatte Sprache, die die Toten hier führen. Er habe sich auch „versöhnt mit der Schweizer Art das vorzutragen“.

Wilke vermisst mehr Härte

Insa Wilke meinte man könne „Schnittmuster“ nicht mit Zaimoglus Rede vergleichen. Der Text greife auf, was unter Frauen weitergegeben wird. Die Frage nach der Gewalt in der Gesellschaft werde heutzutage in der Literatur häufig thematisiert, man frage sich, wie es sein kann, dass Gewaltverhältnisse sich nicht ändern. Auch sie stimmte der Auffassung zu, in „Schnittmuster“ seien zwei Texte vorhanden. Sie habe zu Beginn das Gefühl gehabt, es gehe um die Frage, wie man mit Toten umgeht, dann zeigte sich aber, dass es eigentlich darum geht, was nicht weitergegeben werde. Ihr fehlte aber eine gewisse Härte auf Ebene der Sprache.

Tddl 2018 Gmünder Winkels Gomringer Jury

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Gmünder, Winkels

Für Gmünder überinstrumentalisiert

Stefan Gmünder irritierte das etwas zu langsame Tempo des Texts. Er habe Respekt vor der Perspektive, aber Clavadetschers Text sei überinstrumentalisiert. Zu viele Themenbereiche würden angesprochen. Das Bild der Metamorphose fand er schön, aber der Text sei zu voll an sprachlichen Versatzstücken. Man habe aber etwas gewagt mit diesem Text und davor habe er Respekt.

„Quietismus gewöhnungsbedürftig“

Juryvorsitzender Hubert Winkels fand, der Text bleibe auf eine eigentümliche Art distanziert, da eine Tote spricht. Die normale Erwartung sei, dass jemand ein Leben geführt hat und alles vermisst, oder eskapistisch veranlagt ist. Dieser Text sei aber quietistisch und gebe daraus keinen Ausweg. Luisa sei eine kleinbürgerliche Figur. Das sei kein Zufall, die Vision sei als Enge ausgestellt. Diese Form von Gewalt, die die Erzählerin erlebt hatte, werde weitergehen. Das Poetische, der Quietismus sei Programm, aber auch gewöhnungsbedürftig. „Sie ist Schneiderin und macht’s nur bunter und schöner.“

Keller: zwei Chancen und Aktivismus

Hildegard Keller, die Clavadetscher nach Klagenfurt geholt hatte, erklärte, ihr gefiel zunächst der seltsame Tonfall. Das Perspektivenexperiment habe sie beunruhigt und zum Text geführt. Klassische Totengespräche würden üblicherweise körperlose Wesen mit einer Botschaft für die Lebenden beinhalten. Diese Figur sei in einer seltsamen anderen Position. Es gehe um zwei Chancen: die Chance, in ihrem Leben zu reden, und die Chance, ihre Erscheinungsform zu ändern. Normalerweise werde gesagt, man solle die Chance im Leben nutzen, diese Figur ergreife aber die Chance an der Schwelle. Durch die Me-too-Debatte erhalte der Text einen Untergrund. Es gehe um eine Frau, die nicht gelernt hatte, zu reden.

Es sei auch ein Racheelement dabei, sie sehe darin aber nicht Eskapismus sondern Aktivismus. Es sei eine Erzählung der letzten Chance, die in ein Paradox gepackt ist. Es stimme, dass es zwei Texte seien – die Perspektive innen und die Perspektive außen. Die Erfahrung der Frau werde weiter gegeben von Generation zu Generation. Zu Beginn des Jahrhunderts sei noch das Schweigen weitergegeben worden. Winkels pflichtete dem bei und bezog sich auf das Ende, wo noch einmal klar wird, dass die Erzählerin sich entwickelt habe.

Wilke widersprach dem. Sie fand das Spiel mit der Perspektive nicht so riskant, es gebe keine Rachemotive, wodurch wenig Reibung entstünde. Damit habe sie ein Problem. Irgendwie nehme es dem Text Kraft, da hier keine Härte, kein Reibungsmoment vorhanden sei.

Jury Insa Wilke

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Insa Wilke

Für Kastberger ist Luisa kein Zombie

Für Kastberger stellte sich die Frage, wo der Quietismus liege. Auf Ebene der Figur sei das klar. „Ich richte mir in meinem Sterben mein Arbeitszimmer ein.“ Das sei der zentrale Satz des Texts. Er hätte auch Texte lieber, in denen Zombies ihre Enttäuschung um sich hauen. Diese Perspektive hier zeige aber, Luisa könne selbst im Tod nicht aus ihrer Art heraus. Der Text zeige, sie könne nicht einmal im Tod einen Befreiungsschlag setzen und zum Zombie werden. Wäre der Text anders angelegt worden, hätte er vielleicht mehr Emanzipationspotenzial gehabt. „Dass darin eine Provokation steckt, merkt man schon daran, wie sie schildern“, folgerte Winkels.

Gomringer befand, im Ton bleibe es die Erfahrungswelt der Frau. „Ich bin endlich der Schädling, der ich immer sein wollte.“ Laut Gomringer sei dieser Satz von zentraler Bedeutung.

Kastberger nahm noch kurz auf Kafkas „Die Verwandlung“ Bezug, worin die Metamorphose eine Befreiung sei, die es in „Schnittmuster“ nicht gebe.

Ein spannendes Experiment, die ihre Provokation daraus zieht, sie zu vermeiden, fasste Christian Ankowitsch die zweite Diskussion des ersten Lesetages zusammen.