John Wray TEXT

John Wray liest den Text „Madrigal“ auf Einladung von Sandra Kegel. Sie finden hier einen Auszug des Textes und den gesamten Text zum Nachlesen im .pdf-Format.

Und dieser allerletzte Tag, dieser letzte und längste, endgültige Tag, endet mit dem Anruf ihres unerträglichen Bruders. Unerträglich wenn er sich bei ihr meldet, pausenlos klagend über eine Reihe von Lasten, die jeder nicht-in-der-Kulturhauptstadt-der-Erde-lebende-Mensch nur all-zu gerne hätte—Waldorfschulen und Verkehrsstörungen und etwas, das tatsächlich, so etwas kann man nicht erfinden, ‚mansion tax‘ heißt—und noch viel weniger erträglich angesichts jener langen Zeit absoluter Funkstille, die ihr deutlich macht, so deutlich wie nur möglich, wie wenig ihm seine Familie eigentlich bedeutet. Ihr Bruder nimmt die Saga seines epischen, einseitigen Streits mit einem gewissen Hunter Wagoner sofort wieder auf, der neueste in einer langen Reihe von Südstaatenschrifstellern, dessen ‚Moment‘ ein bisschen intensiver glänzt und länger zu dauern scheint als der ‚Moment‘ ihres Bruders; aber zum ersten Mal in mehr als zehn Jahren dieses Rituals der Autopietá erlaubt sie es sich, seinen Monolog zu unterbrechen.

‚Ich will mir diese Scheiße nicht mehr anhören müssen, Teddy.‘

‚Wie bitte?‘

‚Du hast mich gehört. Endlich bitte Schluss mit Hunter Wagoner.‘

‚Glaub mir, Maddy, ich stimme voll mit Dir überein. Leider bleibt aber die Tatsache, dass dieser schmierige Arschkriecher—‘

‚Ich könnte Dir all Deine Beschwerden jetzt schon aufsagen, ohne ein weiteres Wort hören zu müssen. Mir ist sogar die Reihenfolge vertraut.‘

‚Okay. Verstehe. Aber—‘

‚Ich weiß, dass sein Buch eine ganze Seite im Feuilleton bekommen hat, obwohl es nur ein Kurzgeschichtenband war, und dass alle den Humor seiner Prosa in den Himmel heben, obwohl er sonst eigentlich gar nicht so witzig ist, und dass Du bei irgendeiner Party mitbekommen hast, wie er einer jungen, naiven Studentin von jenem Jahr erzählte, in dem er außer dem Neuen Testament kein Wort gelesen hat, und dass sie dann zusammen die Party verlassen haben. Können wir einfach zu dem Punkt im Gespräch vorspulen, an dem ich Dir versichere, dass Du ein besseres Ohr für Dialoge hast?‘

Gesamter Text als .pdf

PDF (304.5 kB)