Jurydiskussion Sylvie Schenk

Sylvie Schenk las auf Einladung von Hubert Winkels den Romanauszug „SCHNELL, DEIN LEBEN“. Er beleuchtet in kurzen Kapiteln Zwänge und Konventionen, die eine Frau in einer konservativen Gesellschaft während des Erwachsenwerdens kennenlernt.

Die hohe Selbstmordrate im Dorf des Dienstmädchens, familiäre Ungereimtheiten, die Auswirkungen der katholischen Schule und die Entdeckung der zwei Weltkriege spiegeln auch aufgrund der feministischen Perspektive eine tief gehende Tragik wieder, eine Tragik, die auch im Kapitel rund um eine traurige Kindheitserfahrung des zukünftigen Mannes der Protagonistin zum Vorschein kommt. In nüchterner Sprache wird beleuchtet, wie sich trotz allem scheinbar alles zum Guten wendet.

Sylvie Schenk

Johannes Puch

„Differenziert, ohne zu werten“

Stefan Gmünder zeigte sich froh, die Lesung gehört zu haben. Es handelt sich seiner Meinung nach um eine Autorin, die sich mit seltenen Mitteln beschäftige, die zweite Person Einzahl werde selten verwendet. An diesem Text werde die Sanftheit des Blicks sichtbar, was er sehr schätze. „Ein Text, der sehr differenziert ist, ohne zu werten.“

Feßmann gefiel Text nicht

Meike Feßmann wurde während der Lesung klar, was ihr an diesem Text nicht gefiel. Er sei geschnitzelt, wie aus dem Geschichtsbuch. Für sie war die erste Stelle, an der sie das Gefühl hatte, eine Erzählung zu lesen, die Szene mit dem Jungen, der alleine mit dem Zug fährt. Da habe sie sofort ein Bild vor sich gehabt, bei allem anderen hatte sie das Gefühl, das könne in jedem Schulbuch sein.

Sylvie Schenk

Johannes Puch

Kastberger ortete Bekanntes

Da es ein autobiographischer Text sei, verstand Klaus Kastberger die zweite Person Einzahl nicht. Er hatte ebenfalls den Eindruck, als habe sich ein Geschichtsbuch in den Text hinein verirrt. Den Satz „Die Dramen der Gegenwart dringen in dich ein“ fand er interessant, aber er hätte sich mehr gewünscht. Er hatte das Gefühl, „als hätte er den Text schon gekannt, bevor er geschrieben worden ist.“

Tag 2 Keller

Johannes Puch

„Spezielle Weltsicht einer Frau“

Hildegard Keller meinte, Schenks Text sei ein autobiographischer Lebensbericht, der „wieder die Frage aufwirft, wem die deutsche Sprache gehört.“ Auch Schenk habe sich, wie Gardi, die Sprache zu Eigen gemacht. So komme es zu einer Pluralisierung der Sprache. Sie fand auch viel Französisches in Schenks Text, was sie aber nicht näher beschreiben könne. Außerdem sei viel Pretiöses enthalten, das Geschichtliche sah Keller weniger. Sie fand den Text aufgrund der Pluralität eindringlich, wegen der speziellen Weltsicht, der Sicht einer Frau, die sie so noch nicht wahrgenommen habe.

„Sprache kann metaphorisch viel“

Sandra Kegel benannte die kurzen Kapitel dieses Auszugs „Vignetten“ und fand, dass dieser Text eine eindringliche Sprache habe und metaphorisch sehr viel könne. Die Themen, die die Erzählung aufwerfe – Stadt Land, Mann Frau, arm reich – werden in starken Bildern wiedergegeben. In der Szene rund um Johann sehe man die Stärken, aber auch die Schwächen des Texts. Man fiebert mit dem Jungen mit, werde aber enttäuscht. Das sei ein schönes Bild, aber gleichzeitig eines, das man schon kennt. „So sehr die Szene als Detail funktioniert, hat sie nichts Innovatives,“ so Kegel.

„Schauder einer Bourgeoisie“

Juri Steiner meinte, da stecke etwas drinnen wie der Schauder einer Bourgeoisie und französische sadomasochistische Literatur. Darunter steckt Streit, Verachtung, die sexuelle Entwicklung eines Mädchens. Dieses Mädchen lebe in der französischen Nachkriegsgesellschaft, die surreal sei. Sie will etwas Beruhigendes, Liebes sagen, aber es funktioniert nicht, weil die Welt nicht so ist. Daher kommt es zur Natureuphorie, da gibt es eine Art von Erfüllung. Zum Schluss habe man den Eindruck, dass etwas gelingt. Da bricht das Du mit dem Ich.

„Auf große Weise einfach“

Hubert Winkels nahm auf das Autorenporträt vor der Lesung Bezug und auf Stiefel, die in dem Video zu sehen waren. Die würden an Van Gogh erinnern und an Heideggers Betrachtung dieser Stiefel. Es müsse nicht immer so kompliziert sein, der Text sei einfach, es sei schön, dass ein Text einmal nicht den Anspruch erhebe, innovativ zu sein. „Er ist auf große Weise einfach.“ Das Private, die Natur, das Historische, das alles wird in Vignetten verbunden. Der Titel „Schnell, dein Leben“ verleihe dem Ganzen einen speziellen Rausch. Derjenige, der erzählt, habe wenig Zeit zu erzählen, was einen Druck erahnen lässt, „vielleicht handelt es sich dabei um einen historischen Druck, ein Druck des Alterns.“

Was hier transportiert werde, wenn man etwas Avantgardistisches sehen wolle, sei es das Zeitverhältnis zwischen dem halben Jahrhundert und der Kürze der Vignetten so Winkels.

Feßmann interpretierte die Naturbeschreibungen auf der einen Seite, die zum Teil idyllisch seien, und die bedrohlichen Bilder als Überschneidung von Topologie und Pathologie. Am Anfang habe man das Gefühl, es sei eine französische Heidi-Geschichte, aber es laufe auf einen Endpunkt zu.

Tag 2 Feßmann Gmünder

Johannes Puch

Kastberger und sein erster Satz

Kastberger hinterfragte den ersten Satz des Texts, der die Erzählperspektive vorgebe. Dieser lautet: „Als kleines Mädchen der fünfziger Jahre weißt du von deiner Minderwertigkeit und möchtest lieber ein Junge sein.“ Ihm sei nicht klar, wer hier was adressiert. Er fragte, ob sich die Erzählerin an das kleine Mädchen wendet, oder doch an jemand anderes. Auch in den 50er-Jahren gab es schon Geschichten, die die internalisierte Minderwertigkeit hinterfragten, bemerkte er.

Winkels befand hingegen, dass jemand, der weiß, dass er als minderwertig betrachtet wird, schon den Anfang von Emanzipation beschreite. Keller schloss mit der Beobachtung, der große Unterschied hier sei sicher „die autobiographische Perspektive, die einen eigenen Respekt verlangt.“