Jurydiskussion Ronya Othmann

Die deutsche Autorin Ronya Othmann las auf Einladung von Insa Wilke den Text „Vierundsiebzig“ über Völkermord des Islamischen Staats in Shingal. Die Jury traf kein klares Urteil über die Qualität des Textes. Es wurde darüber diskutiert, wie man über Unsägliches schreiben könne.

Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Ronya reist in den Shingal und andere irakische Orte, wo sie Familienmitglieder, Bekannte, und Fremde besucht. Bei den Gesprächen erfährt die Jesidin Vieles, das sie über den 2014 vom IS verübten Völkermord in Shingal nicht wusste. Angesichts der Vergangenheit überkommt sie vor allem Sprachlosigkeit. Die Gegenwart wird von der Todesgefahr überschattet.

Ronya Othmann

ORF/Johannes Puch

Ronya Othmann

Thema der Unsagbarkeit

Die Jurydiskussion wurde von Hubert Winkels eröffnet. Es sei nicht leicht, nach der Lesung eines solchen Textes sofort wieder in die Logik der Kritik zurückzukehren. Das Hauptthema des Texts sei der Unsagbarkeitstopos, was ein altes kunsthistorisches Phänomen sei. Die Frage an den Text sei, wie er das Thema aufgenommen habe. Der Text schreibe die Erfahrung der Autorin. Man habe eine ganze Reihe von Medien, die schildern und dazwischen stehen. Der Text bringe einen „spezifischen Mut“ auf. Im Internet sei das Gewaltporno, wenn man zu nah dran sei, das verstehe der Text. Hier habe man Distanzierung und Nähe, der Text sei „wirklich gelungen“.

Jury

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Keller, Wiederstein, Winke

„Schilderung unsäglichen Leids“

Hildegard Keller äußerte, unsägliches Leid werde hier geschildert. Auch hier sei die Autorin im Text, in dem es aber ihrer Auffassung nach keine Distanzierung gebe. Im Gegenteil, die Autorin sei ganz nah am Text. Das Ich reflektiere, aber „als Literaturkritikerin bleibe ich still“, sie wolle einen solchen Text nicht kritisieren. Damit begann eine Diskussion auf Metaebene.

Stefan Gmünder zeigte sich dankbar. Das Problem sei aber, dass Worte immer etwas bedeuten. Es stelle sich die Frage, wie man mit dem Unsäglichen umgehe. Was ihm gefallen habe, seien die reportageartigen Zugänge und das wiederkehren des „ich schreibe“. Wenn man über dieses Thema schreiben könne, könne man es so machen, wie dieser Text.

Jury

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Winkels, Keller

„Gelungen als Reportage“

Für Klaus Kastberger stellte sich die Frage, wer schreibe wie die Medien. Der Text nehme auf die eigene Form Bezug, als Reportage wäre der Text vollauf gelungen. Der Text sage wiederholt, er sei Fiktion. Ihm gefallen die Stellen, an denen der Text frage, wie etwas gesagt werden solle – man solle daran denken, dass das auch hergestellt sei, die Autorin habe das Geschehen nicht erfunden, sondern sie habe das so erfahren.

Insa Wilke befand, der Text falle in einen hinein und erinnerte an den Grundsatz, dass man in Bezug auf den Holocaust nur dokumentarisch schreiben dürfe. Sie finde, man müsse unbedingt über solche Texte literaturkritisch sprechen, da sie die uralte Frage stellen, wie man darüber schreiben solle. Diese Frage sei wichtig.

Keller wollte nicht literaturkritisch urteilen

Keller meinte, sie habe angesichts solcher Texte ein Problem damit zu sagen „der Akkusativ stimmt nicht“. Wilke hingegen stellte fest, die Erzählerin sei Medium, sie versuche eine Sprache zu finden und versuche sich selbst darzustellen. Es gebe wichtige Stellen in dem Text. Geschichten mit Generälen, die mit Köpfen Fußball spielen, habe es auch im Jugoslawienkrieg gegeben. Die Erzählerin verknüpfe die Zeugenschaft mit dem Erzählen, was schwierig sei. Diese feinen Bewegungen mache dieser Text.

Jury

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Klaus Kastberger

Nora Gomringer sah im Text wieder die Frage, wie man über Schreckliches schreibe. Auch sie habe, wie Keller, Hemmungen, sich diesem Text literaturkritisch anzunähern. Er habe die Kraft, uns direkt ins Geschehen hineinzuversetzen, die Autorin schreibe auf, dokumentiere und bekunde, alles basiere auf einer Sprachlosigkeit.

„Wichtiger Zugang“

Winkels meinte, immer wieder werden Menschen für ihre Zeugenschaft Preise verliehen. Es gehe um die Frage der Vermittelbarkeit, die schließlich „genuin literarisch“ sei. Der Zugang sei wichtig und individuell.

Michael Wiederstein fand es interessant, wie der Text auch die sonst redselige Jury sprachlos mache. Am ersten Tag habe es viele Superlative gegeben, hier habe man es tatsächlich mit einer Apokalypse zu tun, aber dieser Text bewege sich ständig „zwischen Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit“. Im Vakuum sei die Sprachlosigkeit. Was er kritisieren wolle, wenn er dürfe, sei, dass diese Sprachlosigkeit immer wieder genannt werde, was aber auch als die Qualität des Texts gewertet werden könne.

Vergleich mit Handkes Jugoslawientexten

Kastberger befand, es sei unangemessen, so über diesen Text zu urteilen, wie über andere. Es stelle sich die Frage nach Authentizität, wie schon bei Peter Handke, der über den Jugoslawienkrieg geschrieben hat. Nur durch eigene Anwesenheit und Erfahrung könne man die Wahrheit erkennen. Bei der Debatte damals habe man gesehen, es sei unvermittelbar gewesen. Bei dem Text von Othmann zeige sich, dass dieser Text Zeugenschaft in einer anderen Form realisiere. Den Teil, den Handke bei seinen Texten bewusst aussparte, nehme dieser Text mit. Das sei keine Fiktion, er berichte von etwas, von dem er annehme, es sei real.

Winkels meinte, Handkes Problem sei gewesen, mit seiner poetischen Sprache etwas verschleiert zu haben. Das störe ihn bis heute. Die Zeugenschaft der Autorin sei etwas Besonderes, aber ansonsten: „Text ist ein Text ist ein Text“.

Kann man über solche Texte reden?

Insa Wilke kam auf die Frage zurück, ob man über solche Texte sprechen könne. Man verdamme solche Texte zum Schweigen, wenn man nicht darüber reden könne. Das könne man sich nicht gestatten. Winkels widersprach ihr, sie würden doch ständig über den Text sprechen. Keller hingegen meinte, Wilke hätte das schon richtig wahrgenommen, dass sie selbst und auch Gomringer nicht darüber urteilen wollten. Wilke fragte, ob man nicht die Zeugenschaft im Text verhandeln könne, ohne dass es sich um reale Zeugenschaft handele.

Kastberger stellte fest, es gehe nicht um individuelles Leid, sondern um Genozid. Im Genozid gehe es um die Vernichtung der Art, alle seien mitgemeint. „Jesiden werden getötet, weil sie Jesiden sind, Juden werden getötet, weil sie Juden sind“, erklärte Kastberger. Das ist eine Art von Leid, von Auslöschung, Vernichtung, die nichts mit individuellem Leid zu tun habe. Winkels bekräftigte, das Gegenteil sei der Fall, es müsse auf den Einzelnen zurückgeführt werden. Man müsse an der Re-Individualisierung arbeiten. Das sei eine humanistische Grundeinstellung.