Jurydiskussion Ally Klein

Ally Klein wurde von Michael Wiederstein nach Klagenfurt eingeladen und präsentierte ihren Auszug „Carter“. Darin läuft eine Ich-Erzählerin durch Dunkelheit und Dreck, bevor sie eine Hütte erreicht, in der sie Unterschlupf findet.

In der Kälte der Hütte vernimmt die Erzählerin zwischen unterbrochenem Schlaf Geräusche und sieht sich plötzlich einer Frau namens Carter gegenüber. Mithilfe von einer bloß angedeuteten Motivation für das Geschehen und den Gemütszustand der Erzählerin sowie einer Vielzahl an sprachlichen Bildern wird die im Text enthaltene Spannung erzeugt.

TddL 2018 Tag 2 Ally Klein

ORF/Johannes Puch

Ally Klein

Winkels suchte nach Halt im Text

Zu Beginn der Diskussion rund um Kleins Text „Carter“ meldete sich Hubert Winkels zu Wort. Er müsse sich zunächst einmal daran herantasten, um was es hier geht. Es sei schwer in diesem Text einen Halt zu finden. Der Körper habe am Anfang keine Sinnesorgane, zu Beginn gebe es nur rudimentäres Bewegen in einem Raum. Nach und nach würden Sinnesorgane erzeugt. Im Grunde genommen sei es eine Kosmogonie. Die Welt werde erschaffen, danach ein Wesen, später ein Schreibtisch, das Wort und schließlich der Mensch. Es sei eine Art Selbstbegegnung. So würde er den Text lesen wollen. Ein „geschlossenes Gebilde, das Unstimmigkeiten hat“, so Winkels.

Gmünder zeigte sich begeistert

Stefan Gmünder urteilte es sei „ein toller Text mit einem unglaublichen Sog von Anfang an“. Er sah darin eine opake Erzählung, „ich habe das wahnsinnig gern gelesen“. Man wisse nicht genau, wo die Figur sei. Das präzise Erzählte treffe auf das Sinnliche, das gefalle ihm. Der Text gehe immer mehr in die Figur hinein, komme aber wieder heraus. Er gab sich „sehr begeistert“.
Winkels stellte klar, wie es gemacht ist, sei offensichtlich. Ob es einen Text spannend mache, wisse er aber nicht. Die Spiegelung der Außenwelt funktioniere nicht, es sei „ein bisschen öde“.

Nora Gomringer hatte denken wollen, dass es sich um ein Gefangenschaftsszenario handelt. Man könne es schon so lesen, dass ein Ich sich selbst erkennt, oder durch einen Kniff ein dritter Mensch, Carter, hinzukommt. Entweder herausweisend, spürend, oder so, als ob alles im Kopf stattfindet. „Beklemmend. Und toll gelesen.“

Kastberger: Figur mit mehreren Funktionen

Klaus Kastberger habe es nicht als Kosmogonie gelesen. Auf Carter fundiere alles hin. Die Figur spreche komplex von sich, auch in mehreren Funktionen. Er fand es eine glückliche Fügung, dass „Carter“ nach Sievers‘ Text gelesen wurde. Man müsse sich über Kriterien im Klaren sein. Es gebe Texte, die sich in der Debatte erschöpfen. Hier habe man einen konträren Text. Er fand es wichtig, über diesen Text anders zu sprechen als über den ersten Text des Tages.

TddL 2018 Tag 2 Kastberger Wilke

ORF/Johannes Puch

Für Keller handlungsarm

Hildegard Keller meinte, der Text sei absolut handlungsarm. Für sie sei „Carter“ im Gegensatz zum vorherigen Text ein Werk, das die Sprache zum Labor macht, was auch die Lesung zum Vorschein brachte. Die Lesung habe dem Text eine physische Dringlichkeit gegeben, die sie beim stillen Lesen nicht empfunden hatte. Wenn sie das auf die Sprache übertrage, würde sie sagen, die Arbeit müsste hier weitergehen. „Wenn du ein Adjektiv findest, töte es“, nahm Keller auf Mark Twain Bezug.

„Klassischer Adoleszenztext“

Michael Wiederstein erinnerte sich an das erste Lesen. Er sei physisch angestrengt gewesen, als er ihn las. „Carter“ lebe, der Text funktioniere organisch. Die Sprache werde zum Zentrum, der Sinn falle immer wieder auseinander, er entscheide aus dem Bauch heraus. Gleichzeitig sei es ein klassischer Adoleszenztext. Die Protagonistin, der Protagonist, klar sei das nicht, gehe in die Welt hinaus und versuche sich zu finden. In der Welt sei offensichtlich ein Heilsbringer. In eckigen Klammern fühle sich das Ich sicherer. „Wirklich super.“

Winkels fand es sei ein unterdeterminierter Text, im Gegensatz zum überdeterminierten Text von Sievers. Das Problem sei, dass man sich hier alles hineindenken könnte. Der Text halte seine Position nicht durch, trotzdem habe er die Möglichkeit, seinen Sound zum Leben zu bringen. Er sei unterkomplex, das Bemühen habe „starke Redundanz“.

Für Wilke „wahnsinnig ungenau“

Insa Wilke empfand ihn als „wahnsinnig ungenau“. Als Leser sei man genauso blind wie die Figur. Für sie sei es beinahe ein Theatertext, der die Realisierung brauche. Es komme umso mehr darauf an, dass er präzise gearbeitet ist, aber das sei er eben nicht. Sie fand viele Bilder falsch. Die vielen Ungenauigkeiten machten sie „skeptisch“.

Gmünder zitierte Georg Büchner: „ Wer auf dem Kopf geht hat den Himmel als Abgrund unter sich.“

Er sah den Text nicht als ein unterdeterminiertes Gebilde. Genau das sei aber, worum es eigentlich geht. Winkels sagte, das sei schon adäquat, aber die Frage sei, ob das auch stimmig ist. Eine Reflexion könne in diesem Text nicht erreicht werden. Unterkomplexität sei schon ein Verfahren, das funktionieren kann. Doch dieser Text habe „keine Spannung“ und sei langweilig. Wiederstein bezog sich auf den Vorwurf der Redundanz. Genau das nehme der Text, um in Schwung zu kommen.

Kastberger muss Text wiederholt lesen

Kastberger erinnerte erneut an Sievers‘ Text, in dem alles sehr genau war, es gebe aber keine Notwendigkeit, ihn noch einmal zu lesen. Kleins Text sei so komplex, dass man ihn wiederholt lesen müsse und es sei einfacher zu sagen, weshalb er gut sei, als zu sagen, weshalb er schlecht sei. Der Text habe für ihn schon beim stillen Lesen Lebendigkeit gehabt. Er warf der Jury vor, die Intention des Texts nicht zu erkennen.

Für Winkels dagegen stimmte die Erzählperspektive nicht, es gehe ihm um ein Strukturproblem.

Gomringer meinte, es sei „sehr japanisch“. Die Darstellung des Unheimlichen, die sich auf den Körper bezieht, diese Art des Grauens sei nicht so bekannt, die Entscheidungsschärfen würden funktionieren.

Wilke hielt es mit den Romantikern, die selbst Bedingungen herstellen. Ihre Frage war, ob das Unpräzise beabsichtigt war, oder nicht. Sie nahm es eher als Mangel wahr. Eine komplexe Debatte über das Komplexe im Text und auch über Kriterien, schloss Christian Ankowitsch.

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