TEXT Martina Clavadetscher (CH)

Martina Clavadetscher liest den Text „SCHNITTMUSTER“ auf Einladung von Hildegard E. Keller. Sie finden hier einen Auszug des Textes und den gesamten Text zum Nachlesen im .pdf-Format.

Das letzte Schnappen macht den Unterschied.
Mit einem Atemzug alles eingeschnürt, das Augenlicht abgedreht,
weg von den Blicken der Enkelin,
wie sie auf das Erschlaffte hinunterstarrt.
Obwohl sie Bescheid wusste – wusste sie nicht, wie ihr geschah.
Sie tat ihr Bestes, hielt ihr die Hand, als es loszulassen galt.
Dabei war sie längst hineingekrochen,
hatte sich von den Außenrändern weggeschrumpft,
über Wochen, Monate, immer tiefer in die Hülle hinein,
hatte sich in ihr Sterben eingewickelt.

Ein letztes Mal schaute ich hinaus.
Ausgerechnet zu ihr.

Vor drei Minuten, so empfängt die Enkelin den Hereinstürmenden.
Zweiundneunzig Jahre lang,
denkt der Bub, der gar kein Bub mehr ist,
zweiundneunzig Jahre lang und dann wegen drei Minuten zu spät.
Und er weint ein bisschen.
Die Arme bleiben liegen, können den Sohn nie mehr umarmen.
Dafür handelt die Pflegerin geschult und vergibt ihren Trost.
Sie ist die nette, keiner dieser überfröhlichen Pfleger
mit Bärtchen im Gesicht und allzeit zu Späßen bereit.

Das Ableben ist kein Spaß.
Wie ernst ich auf einmal angeschaut werde.

Da muss man erst sterben für, dass der Arzt so seriös tut,
notiert, bestätigt und kondoliert. Tot ist man plötzlich wer.

An die Verblichene verliert der Doktor kein Wort,
schließt ihr stattdessen die Lider,
drapiert Arme auf Bauch,
Ärmel auf Oberbekleidung.
Das übliche Falten halt.
Aber wie ruppig er das tut, registriert die Enkelin.
Das Weiche, Wehrlose der Hand einfach so hingeschmissen.

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IBP 2018 TEXT Clavadetscher Schnittmuster
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