Jury zwiegespalten von Gianna Molinari

Die Schweizerin Gianna Molinari wurde von Hildegard E. Keller eingeladen. In „Loses Mappe“ sah Wachmann Lose einen Menschen vom Himmel fallen, ohne ihn als Menschen wahrgenommen zu haben. Die Jury war zwiegespalten.

Von dadurch verursachten Selbstzweifeln getrieben, legt er eine Mappe an, in der er alles über diesen Vorfall sammelt und die er auch der Ich-Erzählerin, ebenfalls Wachdienstbeauftragte, zeigt. Dies ist die Grundlage, die es dem Text ermöglicht, den Tod, die Bedeutung der Erinnerung an Tote, aber auch Probleme der Arbeitswelt zu thematisieren.

Tag 3 Gianna Molinari

ORF/Johannes Puch

Winkels: „leicht bürokratisch“

Die zweite Diskussion an Tag drei der Lesungen eröffnete Hubert Winkels. In Molinaris Text gehe es um das Ereignis im philosophischen Sinne als das, was sich der Wahrnehmung entziehe und dem normalen Instrumentarium nicht zugänglich sei. Die Annäherung an das, was niemand gesehen habe, geschehe über die Box. Alles was man über die Semantik hinaus im Text mithilfe der Fotos sehe, tauche immer nur auf.

Die Welt in der das Unglück geschieht, sei sehr langweilig. Gesellschaften sehen auf Dauer nicht, was in ihrer Mitte geschehe, das sei die zentrale Aussage des Texts. Der Text sei jedoch etwas „langweilig, man muss sich darauf mühsam einlassen“. Man werde auch gezwungen darüber nachzudenken, was Fotografien zu Sprache beitragen. Wenn es sich dabei nicht um einen authentischen Fall handeln würde, würde Winkels das als obszön empfinden. Dass er sich diese Frage aber stelle, zeige, dass es anders affektiert sei, als wenn es mit Sprache beschrieben worden wäre. Schließlich befand er, der Text bekomme „etwas leicht Bürokratisches“.

Hubert Winkels

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Hubert Winkels

Stefan Gmünder ergänzte, dass der Text auch die Flüchtlingskrise aufnehme. Dieses Thema sei „vermintes Gelände“, der Autorin gelinge der Umgang damit jedoch gut. Er fand den Text „präzise gearbeitet“.

„Stoff interessierte Öffentlichkeit derzeit“

Sandra Kegel fand es interessant, wie in „Loses Mappe“ mit der „Ikonographie des Falling-Man vom 11. September und der Flüchtlingskrise“ umgegangen wird. Es sei ein Stoff, der die Öffentlichkeit momentan interessiert. Sie möge Wachdienstleute, die immer nur warten und hoffen, dass nichts passiert. Der Text beinhalte vieles, das ihr gefiel, manchmal sei er aber „zu deutlich, er erklärt, was ich eigentlich schon verstanden habe“.

tag 3 Kegel Gmünder

ORF/Johannes Puch

Sandra Kegel, Stefan Gmünder

Klaus Kastberger meinte, der Text „führt uns etwas Unglaubliches vor Augen“. Die Literatur habe zwei Arten mit dokumentarischem Material umzugehen, entweder sie wird selbst zum Dokumentarischen, das untersucht wird, oder sie baut das Reale fiktional aus. Dieser Text würde sich nicht für einen Weg entscheiden, sondern beide Zugänge verwenden. Er sei sich „nicht sicher, ob dieser Mittelweg das Beste ist, was man daraus machen kann“, er finde den Text „dort am besten, wo er nicht er selber ist“.

„Bewusstes Wegsehen“ wird aufgezeigt

Michael Wiederstein wollte zunächst klarstellen, dass Lose sehr wohl etwas vom Himmel habe fallen sehen, dadurch ergebe sich eine „allegorische Qualität“ in Bezug auf die Flüchtlingskrise. Die einzigen, die sich jedoch dafür interessieren, seien Lose und die Erzählerin, das sei das Erschreckende. Der Text veranschaulicht laut Wiederstein das bewusste Wegsehen.

tag 3 Jury

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Hildegard Keller verdeutlichte, warum sie diesen Text nach Klagenfurt eingeladen hatte. Sie befand, der Text würde das Globale und das Lokale verschränken. Das Globale dadurch, dass einer vom Himmel fällt, und das Lokale durch den Ort, wo er aufprallt. Die Verschränkung der Montage dieser Welten, dieser beiden Ebenen habe sie überzeugt. „Dann haben wir gehört vom Mittelweg – was für ein Schwachsinn“, kommentierte sie Kastbergers Aussage. Es sei „ganz wichtig, dass dieser Text sein Gemachtsein zeigt, sprachlich und visuell“. Das sei essenziell für das Selbstbewusstsein des Texts und das finde sie „außerordentlich gelungen“.

Zwiespältiger Eindruck der Jury

Meike Feßmann teilte den zwiespältigen Eindruck ihrer Jury-Mitglieder. Der Text von Jackie Thomae sei ähnlich konstruiert, ein Flüchtlingsschicksal sei in eine westliche Gegenwartssituation eingebunden. Lose sehe das Objekt vom Himmel fallen, nehme es aber nicht wahr, da er es nicht für einen Menschen halte. Das habe die Autorin „sehr gut dargestellt“. Interessant habe sie gefunden, wie ein übliches Unglück der Wohlstandsgesellschaft, die Fabrikschließung, durch dieses Unglück kontrastiert werde. Die Leser seien diejenigen, die es zusammenführen müssen.

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