Jörg-Uwe Albig TEXT

Jörg-Uwe Albig las den Text „In der Steppe“. Er wurde eingeladen von Meike Feßmann. Sie finden hier einen Auszug des Textes und den gesamten Text zum Nachlesen im .pdf-Format.

In dem Augenblick, als er den Fluss überquerte und die Zone betrat, spürte Gregor Stenitz, wie die Luft leichter in seine Lungen drang. Er genoss den Wind, der alle menschlichen Gerüche dauerhaft verjagte, und er wurde selbst zum Wind, der über die Prärie fuhr, hohe Wolken vor sich her trieb und rollende Sträucher. Es war eine Leere, die er manchmal auch an seinem Arbeitsplatz spürte, hinter seinen Fossilien im Stadtmuseum von Zinnroda, in der Sprache der Urbevölkerung Cynowa Ruda. Auch in der Zone genoss er die Vorstellung, er wäre mit etwas Übriggebliebenem allein, an irgendeinem Tag danach, als Letzter in einer Welt ungerührten Betons. Er malte sich Feuerbälle am Horizont aus, Risse im Erdboden, verbranntes Gras. Er hörte das Zittern der Luft und die Ruhe danach. Er hörte Hundegebell.

Nach der Schule war er oft so durch das Gelände seiner niederfränkischen Heimat gestreift, im Rucksack den Zimmermanns¬hammer, die Brechstange für plattiges, den Spargelstecher für tonig-mergeliges Gestein. Er hatte das Geländebuch mitgenommen, Plastiktüten, alte Filmdosen und Klopapier für empfindliche Kleinfunde. In den großspurigen, leeren Straßen der Zone aber gab es keine Details. Er passierte Schilder, Straße des Fortschritts, der Jugend, der Kosmonauten. Sie markierten Verkehrswege ohne Verkehr, trugen Hausnummern, die längst keine Häuser mehr zählten. Wo Bauten gestanden hatten, dehnte sich jetzt die Ebene. Nichts erinnerte mehr an Aufbau, an Berg- und Richtfeste, an den Übermut der Konstruktion. Auf dieser festen, glatten Fläche schienen selbst die Wolken schneller zu fliegen, von Widerständen befreit. Gregors Gedanken übersprangen Jahrmillionen, und so merkte er erst, als sein Fuß an einem Grasbüschel hängenblieb, dass er jetzt mitten in einer Steppe stand, in der offenen, semiariden Graslandschaft gemäßigter Zonen.

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