Jurydiskussion Sharon Dodua Otoo

Sharon Dodua Otoo las auf Einladung von Sandra Kegel den Text „Herr Gröttrup setzt sich hin“. Zwei Menschen am Frühstückstisch und ein falsch gekochtes Ei erinnerten Klaus Kastberger an Thomas Bernhards „Der deutsche Mittagstisch“.

In dieser postmodernistischen Abhandlung über die Kräfteverhältnisse zwischen den Geschlechtern und die Unfähigkeit zu kommunizieren enthüllt „das“ Ich-Erzähler mit fluider Identität seine verschiedenen Versuche mit Menschen zu interagieren – gerne auch in Form eines Eis. Während der Verblendung von Realität und Fiktion wird die Leserschaft persönlich angesprochen und wird dadurch in intimer Weise unter anderem Zeuge davon, wie das Ei Herrn Gröttrupp provoziert.

Sharon Dodua Otoo

ORF/Johannes Puch

Winkels: „Beeindruckend“

Hubert Winkels gefiel die extreme mikroskopische Aufnahme einer bürgerlichen Szene zu Beginn. „Der Fokus ist eng gestellt, so dass man sich zu langweilen beginnt, es ist zu einer Farce gesteigert.“ Dann geschehe aber etwas Spezielles. Man taucht in ein Ei. Es komme zu basisphilosophischen Lebensfragen. Gleichzeitig sei es ein realistisches Stück Geschichte. An dieser Stelle habe der Text eine Beschleunigung. Dieser extreme Wechsel in Geschwindigkeiten und das Aufzoomen ins Makroskopische gefiel Winkels. Die Gesamtleistung sei daher „beeindruckend“.

steiner Kegel Kastberger

ORF/Johannes Puch

„Ein cooler Text“

Klaus Kastberger meinte schlicht „Das ist einer cooler Text.“ Satire, Witz und Ironie brauche man nicht hinein interpretieren, „das ist schon in dem Text“. Er sei auch vom Genre her nicht zu unterschätzen. Das Genre der Tischszene, das in der Moderne und im bürgerlichen Roman gerne bedient wurde, werde immer wieder aufgegriffen, um es zu dekonstruieren und das Bürgerliche zu kritisieren.

Der Referenztext sei laut Kastberber „Der deutsche Mittagstisch“ von Thomas Bernhard, der anlässlich einer Bundespräsidentenwahl in Deutschland geschrieben wurde. Bernhard findet in der Suppe einen Nazi, dieser Hintergrund „dröhnt in Odoos Text mit“. Die Kleinheit der Szene und die inhaltliche Ernsthaftigkeit zeichnen ihn laut Kastberger aus.

„Vergnügte Erzählung über Inkarnation“

Hildegard Keller stimmte ihm zu, man könne „schwer vergnügter von der Reinkarnation erzählen“. Die große Frage eines Ehepaares werde hier aufgegriffen, die Frage, wie man zum perfekten Ei komme. Der Text biete eine verblüffende Lösung: Das Ei verweigert es, hart und deutsch zu werden. Der Text lebe von den vielen Wendungen. Er beginne in der Kleinheit, plötzlich wechselt die Perspektive, in der das Ich ankündige, dass es zur Verteilung vom Lebensauftrag gekommen sei.

Gmünder Keller Winkels

ORF/Johannes Puch

„Das Ding beginnt zu sprechen“

Das Ding beginne zu sprechen, das sei hier ins Extrem getrieben. Das Ich sei anfangs ein Ei, später ein Lippenstift und könne somit alles umfassen. Odoo verlasse den Tonfall der Leichtigkeit nie, so Keller. Wie in der philosophisch-feministischen Diskussion in „The Posthuman Approach“ gebe es mehr handelnde Subjekte, die nicht menschlich sind. Der einzige Kritikpunkt seien für Keller die Leseinstruktionen. Man könne versuchen, das zu deuten, als ob die linke und die rechte Hirnhälfte einander abwechseln.

Die Weltsicht verändere sich, wenn man mit der einen oder der anderen Hirnhälfte die Umgebung wahrnehme. Die eine Hirnhälfte empfindet, das „Ich“ ist ein anderer als „Du“, die andere nimmt wahr, wir sind alle aus einem großen Teich. Das sei die einzige Art, wie sie sie Leseanweisungen interpretieren könne, meinte Keller.

„Kein Mangel an unsympathischen Männerfiguren“

Stefan Gmünder bemerkte, dass es beim heurigen Bachmann-Preis keinen Mangel an unsympathischen Männerfiguren gebe. Hier sei gleich die nächste. Man nehme „mit teuflischer Freude“ wahr, wie das Ei Grötrupp ärgere. Grötrupp war, wie Gmünder erklärte, eine historische Person, ein Raketentechniker. Sich daran zu bedienen, das sei ein „nahezu genialer Griff“. Literatur dürfe alles, der Erzähler könne machen, was er wolle, „das ist sehr gut. Zum Schluss hat das Vergnügung total überwogen.“

Sharon Dodua Otoo

ORF/Johannes Puch

„Wenn man senil wird...“

Juri Steiner fuhr mit den Erläuterungen fort. Die strategisch wichtigen Persönlichkeiten seien Herr Grötrupp und Irmgard. Auch sie sei eine historische Persönlichkeit gewesen, die eine Biographie über ihr Leben mit Herrn Grötrupp verfasst hat. In Otoos Text räche sie sich ein zweites Mal an ihm, in einem Paralleluniversum. Wenn man senil werde, beginnen die Dinge ein Eigenleben zu entwickeln, die Geschichte sei daher nicht metaphorisch, so Steiner, sondern aus der Perspektive der zwei Dementen erzählt. Deswegen sei der Text eine eins zu eins zu lesende Reportage.

„Leseanweisungen aufdringlich“

Meike Feßmann fand interessant, dass die Geschichte als Karikatur eines deutschen Rentnerpaares beginne und dann zur Lehrparabel werde. Einer Parabel über den Wunsch, unauffällig zu sein. Das sei surreal. Dieses Ei wehre sich, aber dann komme die Idee, in einer früheren Zeit hätte es ein auffälliger Lippenstift sein können. Bezüglich der Leseanweisungen gab sie Keller Recht, auch sie fand sie aufdringlich. Auch der Schluss, der mit dem Putzfrauenmotiv aufgelöst werde, gefiel ihr weniger. Sie hätte es besser gefunden, gebe es diesen Teil nicht, in dem die Putzfrau seine Unterhose hält.

„Text entwirft spezifisches Deutschlandbild“

Sandra Kegel bezog sich auf Winkels’ Kritik des Anfangs. Dieser zeige Realismus, deshalb brauche es ihn, „um uns dann zu überraschen“. Der Text breche immer wieder aus dem realistischen Konzept aus. Was ihr gefiel, war, dass der Text so leicht erzählt sei. Der historische Grötrupp habe auch die Chipkarte erfunden. Deswegen komme auch Wernher von Braun vor, das müsse man aber nicht wissen, damit der Text funktioniere. Der Text entwerfe auch ein spezifisches Deutschlandbild. Das sei das, was man im Ausland mit deutschem Humor verbinde, so Kegel.

Der Text werde zum Dingtext, der den Leser auf seinen Kreuzzug durch die Geschichte mitnehme. „Er will nicht entlarven, er arbeitet mit Querverweisen und Humor, die Welt ist jederzeit zu erschüttern.“

Kastberger schloss mit der Bemerkung, der Text könnte so was wie Zauberkraft haben. Das sei der erste Text, wo man den Surrealismus nicht braucht. Zur Frage, ob der letzte Teil des Texts nötig sei, meinte er, er wollte ihn nicht missen, ihm gefiel, wie das „Hohelied der Dienstbotin gesungen wird“.