Jurydiskussion Tomer Gardi

Tomer Gardi las auf Einladung von Klaus Kastberger einen Text ohne Titel, der das Publikum ab und an zum Lachen brachte. Es geht um den Erzähler und seine Mutter. Der Texte verzichtete auf Grammatik und Rechtschreibung.

Der Ich-Erzähler und seine Mutter kommen von weit her und sind, wie es scheint, Flüchtlinge. Der völlige Verzicht auf die Einhaltung von Grammatik- und Rechtschreibregeln soll Authentizität vermitteln.

Tomer Gardi

Johannes Puch

Der Lesser wird mittels eines Erlebnisberichts und der Imitation eines Interviews mit fremden Koffern und Unterhosen bekanntgemacht und mit Überlegungen zu Sprache, dem Phänomen der Zeitzeugnisse und der Vergänglichkeit konfrontiert.

„Alles ein großes Verwechslungsspielt“

Hubert Winkels meinte, er müsse sich da erst reintasten, vortasten, da er den Text bisher nur flüchtig gelesen habe. Die Pausen beim Lesen waren Elemente des Texts selber, der auch von Pausen handelt. Der Text habe zwei Elemente: Eine auf „broken German“ erzählte Geschichte von Mutter und Sohn, die am Flughafen landen und zwei falsch Koffer von Leuten mit Migrationshintergrund mitnehmen. In den Koffern seien auch falsche Kleidungsstücke, da sie ja nicht ihnen gehören. Dann ziehe sie die Kleidungstücke falsch an, wieder eine Verkehrung.

Das sei alles ein großes Verwechslungsspiel. Dann beginnt etwas seltsam anderes, ein philosophische Dimension, so Winkels. Die Genealogie der Muttersprache sei nicht gegeben. Dann komme ein Abschnitt über Babylon, der von Sprachverwirrung handelt. Und dann trete man ein in einen Raum, der Genealogien verhandelt. Da sei die Frage, ob die Mutter gerade von einem Aufzeichnungsgerät aufgenommen werde, das Geschriebene tötet das Erzählte, meinte Winkels.

Tomer Gardi

Johannes Puch

Tomer Gardi verscheucht „deutsche Krähen“

"Welche Einwanderungsbedingungen hat Sprache?

Meike Feßmann fand es schön, wie der Zufall der Jury diese Texte heute zugespielt habe. Dieser Text zeige, dass die Kategorien nicht funktionieren. Für sie war es schon beim stillen Lesen auffallend, dass man sich fragt, wie eigentlich die Einwanderungsbedingungen für Sprache seien. Man könnte fragen, ob denn für die Teilnahme an einem Literaturwettbewerb nicht die Beherrschung der Sprache ein Muss sei. Das sei eine Hybridsprache, man müsse jetzt drüber diskutieren, ob man ästhetisch damit einverstanden sei, das mit denselben Kriterien zu bewerten wie die anderen Texte.

Gmünder könnte ohne letzten Satz leben

Gmünder hinterfragte, dass der Autor nicht Deutsch könne. Man könne durchaus über Ästhetik sprechen. Er sei dem Text von Anfang an positiv gegenübergestanden. Es habe auch gedauert, bis er den Bruch verstanden habe. Die Inkonsistenz sah Gmünder als Problem, da sie etwas Beliebiges habe. Ihm wäre es lieber gewesen, gäbe es den letzten Satz nicht.

Sandra Kegel erinnerte sich an einen brasilianischen Autor, der vor Jahren hier gelesen hatte, Feßmann meinte aber, dass der fließend Deutsch konnte und ein falsches Kunstdeutsch schrieb.

Sandra Kegel fuhr fort, dass sie diese Sprache weniger an broken English erinnerte, als an neue Bereiche, die in die Sprache hineingeholt werden. Die Energie, die dieser Text in die deutsche Sprache gebe, gefiel ihr. Sie wies auch darauf hin, dass es in Israel dieses gebrochene Deutsch durchaus gebe.

„Poetisches Pidgin“

Hildegard Keller meinte, in diesem Text gehe es um ein Thema, das alle betreffe. Die Explosion betreffe vor allem auch die Sprache. Auch Gastarbeiter haben eine gebrochene Sprache. Die Tellermine sei nicht so avantgardistisch, wie man meinen könnte. Es sei poetisches Pidgin, das anregend sei, dass man lerne, die eigene Sprache neu zu sehen. Das war in dem Sinne für sie nicht neu, da man das kennenlerne, wenn man mit Leuten zu tun hat, deren Muttersprache eine andere ist.

Jury bei tomer Gardi

Johannes Puch

"Charmante Boshaftigkeit

Jury Steiner sagte, er habe von Anfang an gemerkt, dass eine liebenswürdige, charmante Boshaftigkeit in diesem Text sei. Das, was passieren werde, sei der Tod. Die Mutter übergibt das Geheimnis des Transits dem Sohn. Aus dem Strohmann wird eine vorgeschobene Identität, die nicht das ist, was sie vorgibt zu sein. Da passiert eine Unterwanderung der Identität, meinte Steiner.

Tag 1 Publikum

Johannes Puch

„Gebrochenes Deutsch fundamental“

Klaus Kastberger tat sich auch schwer mit diesem Text, das sei der Grund für ihn gewesen, ihn zu nominieren. Man könne seiner Meinung nach auch diesen Text wie jeden anderen mit ästhetischen Kategorien behandeln. Der Text habe gerade wegen seines gebrochenen Deutsch Qualitäten. Das gebrochene Deutsch sei fundamental für das Funktionieren des Texts, der eine Hinterfragung von Identität sei. „Was heißt es, dass man ist, wer man ist?“ Da sei die ganze Geschichte des 20. Jahrhunderts drinnen, ein extrem politischer Text. Gardi kommt aus Israel, schreibt einen deutschen Text. Er sei exotisch, extrem politisch, handelt Politik auf formaler Ebene ab.

Es sei natürlich ein Statement, so Kastberger weiter, „wie gehen wir mit sprachlicher Integration um“. Man müsse nicht korrekt Deutsch können, um schreiben zu können. Der Vorteil des Texts sei,, dass er etwas Neues ins Deutsche bringe, er sei „kratzbürstig“. „Die Sprache ist sehr exakt, gerade, weil sie nicht korrekt ist. Da lernt man was Neues draus.“

Meike Feßmann meinte, dass man ja andere Völker benutze, um seine eigene Kultur aufzuwerten.

Tag 2 Kegel Kastberger

Johannes Puch

Winkels wollte eine kleine Anmerkung machen. „Wir kuratieren ja, indem wir auswählen. Diese kuratorische Funktion funktioniert immer nur einmal. Dass ein Pissoir ins Museum kommt, wie Duchamp, kann man nur einmal machen. Auch dieser Text kann nicht wiederholt werden.“ Keller stimmte ihm zu.

Form und Inhalt seien kongruent, aber würde das bedeuten, dass Gardi sich keiner neuen Themen annehme? Kastberger fand es interessant, dass die Jury sich offensichtlich nicht direkt mit dem Text auseinandersetzten will und stattdessen allgemeine Fragen diskutiert. Er hinterfragte die Idee, dass niemand nach Gardi mehr so schreiben könnte.