Jurydiskussion Isabelle Lehn

Isabelle Lehn las auf Einladung von Meike Feßmann den Textauszug „BINDE ZWEI VÖGEL ZUSAMMEN“. Die Jury sah teilweise Ähnlichkeiten mit dem Text von Jan Snela, diskutierte aber kontroversiell.

In einem der beiden Erzählstränge ist der Ich-Erzähler zu Hause, wo er versucht wieder in sein Leben mit seiner Freundin zurückzufinden. Die Realitäten aus der Handlung im zweiten Erzählstrang kann er jedoch nicht so einfach abstreifen. Da ist er nämlich einer von vielen im Dorf. Dieses Dorf erschließt sich als Trainingsplatz für eine militarisierte Gruppe, die mit portioniertem Essen, der Gefahr von verminten Wiesen und den Taliban konfrontiert ist. In dieser Umgebung verbringt der Erzähler viel Zeit mit Aladdin, beziehungsweise sich selber, wie sich schließlich herausstellt.

TDDL 2016

ORF/Johannes Puch

„Ebenen miteinander verflochten“

Hubert Winkels sah in diesem Text Ähnlichkeiten mit dem Text von Jan Snela und fand ihn gleichzeitig doch ganz anders. Es werden zwei Ebenen ineinander verblendet, in der fränkischen Schweiz wird Afghanistan nachgespielt. So seien verschiedene Ebenen ineinander geflochten, trotzdem müsse man sich fragen, wie das zusammenpasse. Der Text erwähne auch ein Bin-Laden-Trainingslager, das man aus den Medien kenne. Winkels meinte, dass Diejenigen, die diesen Krieg mitspielen, seltsamerweise dieselbe Perspektive haben, wie Leute, die spielen. Man könnte es für leichtfertig halten, aber der Text sei nah an der Realität.

„Wahnsinnige Probleme mit Text“

Stefan Gmünder hingegen hatte mit diesem Text wahnsinnige Probleme. Er fand ihn trocken, fand keine Spannung und keine Überraschung. Auch er fühlte an Bin-Laden-Trainingslager erinnert, aber dieser Text sei für ihn wenig überraschend gewesen, der Wechsel von Präteritum und Präsens habe ihn eingeschläfert.

„Hätte ein großartiger Text werden können“

Sandra Kegel fand, dass der Text eine großartige, absurd gute Ausganglage habe. Natürlich tue der Text, als gehe es um Inszenierung, aber der Clou sei, dass Statisten vom Arbeitsamt in ein Trainingslager gesteckt werden und wenn sie sich nicht auf das Spiel einlassen, werden sie auf eigene Kosten nach Hause geschickt. Es sei eigentlich Komödienstoff, aber der Text sei schlussendlich typische Befindlichkeitsprosa, so Kegel. Das fand sie schade, da es ein großartiger Text werden hätte können. Der Text ziehe ihrer Meinung nach das falsche Register. „Man hätte mehr aus dem Text herausholen können.“

Jury Kastberger kegel

Johannes Puch

Kegel, Kastberger

„Irreales Setting“

Juri Steiner meinte, es gehe eigentlich um die Zermürbung in einem irrealen Setting, das aber trotzdem zur Folge hat, dass die Figuren real erschöpf sind. Die zwei Vögel, der Erzähler und Aladdin, seien zusammengebunden und schaffen es nicht mehr, sich zu trennen. Das war für ihn das Spannende an diesem Text.

Klaus Kastberger kam laut eigener Aussage in Versuchung, die Deutsche vor der eigenen Ernsthaftigkeit in Schutz zu nehmen. Er hatte das Gefühl, dass Snela und Lehn in der gleichen Schreibwerkstatt gesessen seien. Die Ernsthaftigkeit in diesem Text fand er jedoch angemessen, deshalb überzeugte er ihn. Er glaubte ihm. Hinter der Tatsache, dass der Erzähler vom Arbeitsamt in ein Trainingslager gesteckt wurde, sei ein existentieller Ansatz, der Text vermag dadurch einen „tollen erzählerischen Kniff“ und sei hochinteressant. Der Text habe „Erlebnisqualität und ist sehr aktuell.“ Das sei dieser Problematik angemessen. In diesem Text stehe auch etwas drinnen, dass er nicht schon vorher gekannt habe, so Kastberger.

„Lehn kann schreiben“

Hildegard Keller sei in der Diskussion aufgefallen, dass es sich um einen Vergleich von Äpfeln und Birnen handelt, wenn man Snelas Text mit dem von Lehn vergleicht, denn der Ton sei grundlegend anders. Der Text sei ihrer Meinung nach solide gearbeitet, die Art wie er vorgelesen wurde, sei angemessen gewesen. Obwohl es sie nicht „ansprang“, sah sie viel Könnerschaft und meinte, Lehn „kann schreiben“. Winkels pflichtete Keller bei und sagte, der Ton passe zum Text.

„Zwei fremde Kulturen aufgenommen“

Auch Meike Feßmann stimmte ihnen zu und befand, es sei die richtige Form für den Inhalt. Krieg und Prekariat werden zusammengefasst. Gleichzeitig wies sie darauf hin, dass es auch eine Selbstentfremdungsgeschichte mit Schauerpotenzial sei. Der Erzähler sei, wie sie ihre Sicht der Dinge erklärte, doppelt verwandelt und finde Aladdin realer als sich selbst.

Mit Aladdin und dem amerikanischen Fastfood hat er aber zwei fremde Kulturen in sich aufgenommen und findet nicht mehr zu seiner eigenen zurück. Er nimmt den Krieg in sich auf, er ist deutscher Komparse in einem Trainingslager der amerikanischen Armee. Das Spiel von Präsens und Präteritum sei notwendig, um die Selbstentfremdung darzustellen.