Leona Stahlmann
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Jurydiskussion Leona Stahlmann, D

Leona Stahlmann, eingeladen von Michael Wiederstein, las den Romanauszug „Dieses ganze vermeidbare Wunder“. Ein Text Mutterschaft und Apokalypse, die Überlegungen einer jungen Mutter, die unsicher ist, ob es richtig sei, ein Kind in diese untergehende Welt zu bringen.

In einer apokalyptisch wirkenden Welt erinnert sich Leda an die Geburt ihres Kindes. „In dem Sommer, als Leda im neunten Monat schwanger war, titelten die Zeitungen zum ersten Mal das Überschreiten der Thermometeranzeige bei siebenundvierzig Grad. Sie dachte, es würde unmöglich sein, jetzt noch ein Kind großzuziehen. Dieses Kind großzuziehen. Dann kam das Kind.“ Um dieses Kind, Zeno, kreisen ihre Gedanken. „Jetzt bist du hier, mein Rattenkind, mein Federvieh, aus einem träumenden Nichts herausgefallen und in einer Zumutung gelandet, da musst du jetzt durch…“ Zeno ist mittlerweile zwölf Jahre alt und zwischen den Beschreibungen einer Marschlandschaft geht der Text immer wieder zu existenziellen Fragen zurück: Was zählt der eigene private Kummer, wenn die Welt untergeht?

Leona Stahlmann
ORF/Johannes Puch
Leona Stahlmann wollte auf dem Tisch mit Teppich sitzen

Viel Lob von Mara Delius

Mara Delius fand man habe es hier mit einer „sehr talentierten und souveränen“ Autorin zu tun, sie offensichtlich einen Text aus dem Genre der Klima-Fiktion vorgelegt habe. Im Englischen gebe es eine lange Tradition der „Climate Fiction“, die auf J. G. Ballard zurückgehe. Innerhalb dieses Genres gebe laut Delius sehr interessante Formen, weil das Spekulative formal sehr viele Gestaltungsmöglichkeiten zulasse.

Mara Delius und Philipp Tingler
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Mara Delius und Philipp Tingler waren völlig uneinig

Einige dieser Gestaltungsmöglichkeiten seien in diesem Text sehr gut ausgefüllt worden, so Delius. Stahlmann schildere sehr gut, wie eine Ordnung gestört sei, den Versuch eine Reihenfolge in eine Erzählung zu bringen. Delius fand es sehr gekonnt, wie in dem Text eine Verzweiflung, quasi die unwiederbringbare Teleologie der Existenz geschildert werde.

„Apokalypse nicht stark genug“

Ein paar Punkte gingen für sie jedoch durcheinander. Zum einen die Art und Weise, wie die Natur anthropomorphisiert werde, z.B. der Fluss, der wütend werde. Entscheidender fand sie, dass die Apokalypse selbst nicht stark genug in den Vordergrund gerückt werde, das sei die Schwäche des Textes. Der zweite Kritikpunkt Delius war, dass zwar die Anthropomorphisierung der Natur eine große Rolle spiele und auch gut gelungen sei, dafür seien alle städtischen Zusammenhänge und der ursprünglichen Gesellschaft etwas platt geschildert.

Tingler: Das ist Kitsch

Philipp Tingler kam auf das Stichwort der Souveränität zu sprechen, das Delius erwähnt hatte. Für Tingler sei der Text überhaupt nicht souverän, sondern das „literarische Äquivalent von Fast Fashion“, das auf die Konfektionsreize einer Innerlichkeit ausgerichtet sei, die im Moment gefragt sei. „Dann wird noch ein Klimasiegel draufgeklebt und es ist trotzdem schwer wieder loszuwerden“, so Tingler. Die fehlende Souveränität könne man auch an der Gestaltung erkennen, man erkenne es am Kitsch.

Michael Wiederstein, Vea Kaiser und Philipp Tingler
ORF/Johannes Puch
Michael Wiederstein, Vea Kaiser, Philipp Tingler

Frage nach Beweis

Michael Wiederstein wolle dafür ein konkretes Beispiel von Tingler, der wolle jedoch zuerst seinen Gedanken zu Ende bringen. Ein weiterer Aspekt von Kitsch im Text sei der Kitsch der Körperlichkeit und der körperlichen Drastik, so Tingler weiter. Das sei so sehr Konvention, dass die Kitschgrenze überschritten sei, der Text erschöpfe sich in Posen des Hinterfragens, der Rebellion. „Das ist alles nichts“, so Tingler.

Die ganze Art und Weise wie die Figur der Leda die Natur in sich aufnehme und wie das beschrieben werde, sei doch nicht einfach nur Kitsch, erwiderte Delius. Für Tingler ist das Bild des Flusses „abgegriffen und kitschig“.

Wilke stimmt Tingler zu

Insa Wilke schloss sich Philipp Tingler „erstaunlicherweise“ in allen Punkten an. Bei diesem Text fühlte sich Wilke an eine Szene zurückerinnert, als sie zusammen mit einem 80-jährigen Zeitungsverleger in einer Jury saß, der sie darüber aufklärte, was die Erotik des Stillens sei, von der sie, da sie ja keine Kinder habe, keine Ahnung habe. Die Figur der Leda könne man als Verbindung von Erotik und Mutterschaft sehen, Erotik spiele in diesem Text eine Rolle.

Insa Wilke
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Insa Wilke

Dies sei interessant ebenso das Thema einer nicht sympathischen Erzählerin. Diese sei herablassend und eine „Anti-Figur“. Darüber hinaus sei der Text stilistisch sehr schwierig, er ist für Wilke „sehr dekorativ und ungenau“. Die Ungenauigkeit führe zu dem Eindruck, dass weder die Autorin im Kontakt mit ihrem Text sei, ebenso wenig wie die Leser.

Kastberger fand Atmosphäre in Klagenfurt passend

Klaus Kastberger merkte an, dass man hier in einer völlig künstlichen Atmosphäre sitze, in einem Studio mit Kameras und bekomme die Lesungen von draußen aus einer Idylle mit Bäumen und Rettungsautos im Hintergrund. Dieses Mal habe man bei der Lesung die Vögel besonders laut zwitschern gehört, Kastberger habe das Gefühl gehabt, das passe hervorragend zum Text. Die Klagenfurter Stadtvögel hätten sich ganz besonders angestrengt, ganz laut zu zwitschern, um zu zeigen, dass sie noch da seien. Der Text sei „zugerichtet“ auf die beiden Begriffe Anthropozän und Klimakrise.

Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger

Der prinzipielle Ansatz des Textes, zu diesen Begriffen eine Stellung zu finden, ist laut Kastberger der richtige. Er teile jedoch auch die Meinung, dass der Text teilweise gelungen und teilweise nicht gelungen sei. Die suchende Bewegung des Textes, Antworten zu finden, mache die Qualität aus. Kastberger sagte, er glaube, der Text sei ein Auszug aus einem größeren Text, der auch schon fertig sei und das hier sei auch die Promotion für den Text. Möglicherweise werde es besser, wenn es auf eine größer Fläche aufgetragen werde.

Begeisterung bei Vea Kaiser

Vea Kaiser sagte, sie freue sich sehr auf den bald erscheinenden Roman. Dass es sich hier um einen Auszug handelt, erkläre auch die Probleme des Textes. In der verdichteten Form möge es etwas verwirrend erscheinen, diese Ansicht könne sie aber nicht teilen. Man habe hier ein starkes Motiv variiert, nämlich das Panta Rhei, dass alles immer im Fluss sei. Auch das Motiv der Mutterschaft werde durchgezogen. Das Tolle sei, dass der Zustand des Wochenbettes die souveräne Erzählerin etwas hervorbringe, das sei „großartig“, so Kaiser.

Vea Kaiser und Philipp Tingler
ORF/Johannes Puch
Vea Kaiser

Man habe eine Figur, die völlig aufgebracht davon sei, dass sie ein Kind in eine Welt gebracht habe, die untergehe. Deshalb müsse die Natur vermenschlicht werden, weil sie eine große Rolle spiele. In dieser Drastik sei das „wunderbar“. Leda sei in der griechischen Mythologie nicht nur die Mutter Helenas sondern auch der Dioskuren, die wie keine anderen Figuren für das Vergehende, sie seien zur Hälfte lebendig und zur Hälfte tot.

Wiederstein sieht „klare Struktur“

Michael Wiederstein meinte der Text habe eine sehr klare Struktur. Man habe es mit sechs Versuchen zu tun, dem eigenen Kind das Ende der Welt zu erklären. Offenbar sei die Apokalypse schon gelaufen oder laufe gerade. Die sechs Versuche seien die kursiv eingerahmten Stellen im Text, so Wiederstein. An jedem Anfang und Ende dieser Textstellen komme die Unsicherheit der Erzählerin durch. Die Naturdarstellungen sind climate fiction und nature writing, so Wiederstein. Man könne die Geschichte, der Zerstörung der Welt nur mit Pathos erzählen, das sei jedoch nicht gleich Kitsch.

Brigitte Schwens-Harrant
ORF/Johannes Puch
Britte Schwens-Harrant

Schwens-Harrant: Antworte auf Apokalypse

Brigitte Schwens-Harrant schloss sich Wiederstein inhaltlich an. Man merke, der kleine Mensch sei eingebettet ins große Ganze. Wichtig fände sie den Hinweis, dass Antwortversuche gegeben werden, wie man mit der Apokalypse umgehen solle. Es handle sich hier jedoch nur in dem kursiven Stellen, die könnte man auch stilistisch erklären als solche. Sie seien im Text ja auch kommentiert worden als zu pathetisch und zu kitschig. Das sei eine Ebene des Textes, die ihr durchaus zusage, weil damit die Schwierigkeit benannt wird mit dem Ende der Welt umzugehen. Das Problem sei, es gebe den Text auch außerhalb der Antwortversuche, hier werde das Kitschige und Pathetische nicht relativiert.

Was Schwens-Harrant spannend am Text fand sei, dass er nicht nur inhaltlich mit dem Zyklus der Natur spiele, sondern auch Linearität aufweise. Sie habe den Eindruck, die Autorin habe formal etwas interessantes probiert, in der konkreten Sprachebene klappe es aber oft nicht.