Lesung von Leona Stahlmann
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Letzter Lesetag mit neuen Favoriten

Der letzte Lesetag begann mit den Deutschen Autor/-innen Leona Stahlmann und Clemens Bruno Gatzmaga. Juan S. Guse (D) gilt als neuer Favorit. Der zweite Österreicher im Bewerb, Elias Hirschl, beschloss den Lesetag.

Das Wetter hielt, die kuschelige Außenbühne, erstmals in diesem Jahr aufgebaut, konnte an allen drei Tagen bei Sonne und Hitze genützt werden. Als erste las die Deutsche Leona Stahlmann, eingeladen von Michael Wiederstein, ihren Text „Dieses ganze vermeidbare Wunder“, ein Romanauszug über Mutterschaft und Apokalypse, die Überlegungen einer jungen Mutter, die unsicher ist, ob es richtig sei, ein Kind in diese untergehende Welt zu bringen.

Leona Stahlmann
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Leona Stahlmann

Heftige Diskussion über Kitsch

Die Jury war völlig unterschiedlicher Meinung. Mara Delius lobte die „souveräne, talentierte“ Autorin mit ihrem Text der Klimafiktion, in der die Natur anthropomorphisiert werde. Philipp Tingler sah hingegen keine Souveränität, er würde eher von Verkitschung der Natur sprechen. Die Kitschgrenze werde überschritten, so Tingler. Delius konterte, die Figur der Leda sei doch kein Kitsch.

Insa Wilke sagte, die schließe sich „erstaunlicherweise“ Philipp Tingler an. Sie fühle sich an ihre Teilnahme an einer Jury erinnert, als ihr ein 80-jähriger Zeitungsverleger die Erotik des Stillens erklärt habe, von der er mehr Ahnung hätte als sie. „Der Text ist stilistisch schwierig, dekorativ und ungenau.“ Klaus Kastberger sagte, man sitze als Jury in einer völlig künstlichen Studioatmosphäre und bekomme die Texte aus idyllischer Umgebung mit Sonne und Bäumen vorgelesen, das passe zu diesem Text. Der Text sei manchmal kitschig, man sei hin- und hergerissen. Vea Kaiser gefiel der Text über ein Wochenbett sehr gut. Die Figur sei aufgebracht dadurch, ein Kind in eine Welt gebracht zu haben, die untergehe. Insa Wilke: „Es ist Kitsch.“ Kastberger hielt dagegen, es sei nicht nur Kitsch – mehr dazu in Jurydiskussion Leona Stahlmann, D.

Clemens Bruno Gatzmaga
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Clemens Bruno Gatzmaga

Gatzmaga mit „Schulze“

Auf sie folgte der Deutsche Clemens Bruno Gatzmaga, geladen von Brigitte Schwens-Harrant. Er las den Text „Schulze“. Sein im Februar 2021 erschienener Debütroman „Jacob träumt nicht mehr“, der in Österreich für den Debütpreis nominiert wurde, hatte einen Einblick in die stressreiche Welt von Marketing- und Werbebranche gegeben. Auch sein Bachmann-Preis-Text spielt in der Wirtschaft. Herr Schulze, offenbar ein wichtiger Unternehmer, der an diesem Vormittag vor die Presse treten muss und dem eine jüngere, ehrgeizige Kollegin unter Druck setzt, wacht in der Früh auf „und bemerkt, dass er in die Unterhose uriniert hat“. Zu seiner Frage, wie das passieren konnte, kommt die Sorge, dass seine Frau Elke seine Unruhe bemerken könnte. Doch plötzlich ist Elke gar nicht mehr da – und Schulze muss sich alleine fertig machen für seinen Tag.

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Lesung Elias Hirschl
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Publikum im ORF Park bei Lesung von Elias Hirschl
Elias Hirschl
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Elias Hirschl
Lesung Elias Hirschl
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Michael Wiederstein, Vea Kaiser und Philipp Tingler
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Michael Wiederstein, Vea Kaiser und Philipp Tingler
Lesung Clemens Bruno Gatzmaga
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Lesung Clemens Bruno Gatzmaga
Die Jury
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Die Jury
Brigitte Schwens-Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant
Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger
Vea Kaiser
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Vea Kaiser
Brigitte Schwens-Harrant, Insa Wilke und Michael Wiederstein
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Brigitte Schwens-Harrant, Insa Wilke und Michael Wiederstein
Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger
Insa Wilke
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Insa Wilke
Mara Delius und Philipp Tingler
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Mara Delius und Philipp Tingler
Leona Stahlmann
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Leona Stahlmann
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Leona Stahlmann

Mutterfigur oder keine Mutterfigur?

Insa Wilke sage, sie fände es sehr schön, wie sich die Fügung der Lesereihenfolge ergebe. Nach der Mutterverherrlichung habe man hier nun das Mutterproblem, die dem Jungen mit den Urintropfen in der Unterhose sagte, er sei schmuddelig. Vea Kaiser widersprach. Das sei eine Fantasie und eine kreative Leistung für eine Literaturkritikerin. Kreativität sollte man aber besser den Autoren lassen, so Kaiser. Das Betonen männlicher Körperflüssigkeit auf eine so monotone Weise komme nach dem „vielschichtigen Körperflüssigkeiten-Porträt“ von Stahlmann noch furchtbarer heraus.

„Der alte weiße Mann“

Michael Wiederstein schloss sich Kaiser ein Stück weit an. Beim ersten Lesen sei er sehr begeistert gewesen, jetzt sei er es nicht mehr so. Im Text gehe es nicht um Mütter und Traumata, sondern um Kontrollverlust. Klaus Kastberger meinte, er sei bei diesem Text „probeweise Team-Wilke“, ihm gefalle auch der Kontrast zum ersten Text von Stahlmann, weil die beiden Texte formal völlig unterschiedlich seien. Leicht sarkastisch bemerkte Kastberger, dass Gatzmagas Text endlich ein Text sei, der sich um die drängenden Probleme der Menschheit, nämlich die des alten weißen Mannes kümmere.

Philipp Tingler hingegen konnte dem Text überhaupt nichts Originelles abgewinnen, es sei „der Urtyp der Parabel.“ Er habe jedoch etwas seltsam Antiquiertes und Nostalgisches und hätte auch vor 30 Jahren hier vorgetragen werden können. Brigitte Schwens-Harrant, die den Text eingeladen hatte, sagte, sofort angesprochen habe sie die Erzählökonomie, es sei alles präzise gebaut – mehr dazu in Jurydiskussion Clemens Bruno Gatzmaga, D.

Juan S. Guse neuer Favorit

Nach einer kurzen Mittagspause las als vorletzter Teilnehmer des heurigen Bewerbs der Deutsche Juan S. Guse, nach Klagenfurt geholt von Mara Delius. Er las „Im Fall des Druckabfalls“. Darin wird eine bis dato unbekanntes und isoliertes Volk im Taunus-Gebiet in Deutschland entdeckt, das den Frankfurter Flughafen nachbaut. Der Text endet als sich die Maschine auf das Rollfeld bewegt und Ines angstvoll bemerkt, dass einer ihrer Kollegen eine Stange Toblerone im Duty-Free-Shop gekauft hatte. Der letzte Satz: „Noch nie hatte sie eine solche Angst vor einer Stange Toblerone.“

Lesung Juan S. Guse
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Juan S. Guse

Der berühmte letzte Satz

Dieser letzte Satz war für Vea Kaiser und Klaus Kastberger der beste im heurigen Bewerb. Dieser Satz zeige, was der Text sehr gut mache, der Text durchbreche permanent die Erwartungen, die man an Texte habe, so Kaiser. Kastberger ergänuzte, Toblerone sei für ihn schon lange unter Verdacht gestanden, es sei ihm ein Rätsel wie Toblerone zu „einem nationalen Schoki“ werden konnte. Kastberger sah auch „unglaublichen Witz“ im Text.

Insa Wilke sah Absurdität, das Absurde steigere sich immer mehr, er habe Abgründe. Für Mara Delius ist der Text nur an der Oberfläche schlicht, er entwickle eine extreme Tiefe. Wiederstein sah einen „gehobenen Unterhaltungsroman“ und er entdeckte eine Parallele zu Klagenfurt verbunden mit einer „Heart-of-Darkness-Geschichte im Taunus.“ Was Kastberger dazu brachte, zu sagen, man wisse ja, dass Klagenfurt das Heart of Darkness sei – mehr dazu in Jurydiskussion Juan S. Guse.

Elias Hirschl beschloss Lesetag

Am längsten auf seinen Einsatz warten muss der Österreicher Elias Hirschl, nominiert von Klaus Kastberger. Er liest den Text „Staublunge“über eine Onlineredaktion, Lieferdienste und deren schlechte Arbeitsbedingungen und den Traum eines Start-Up-Gründers. Die Ich-Erzählerin schreibt für ein Onlineportal belanglose Artikel wie über die lustigsten Tiermomente des Jahres. Sie hat eine sexuelle Beziehung zu Jonas, der ein Start-Up in einer alten Fabrikhalle führt. Er ist traumatisiert vom Tod seiner Mutter, die fünf Minuten, bevor er mit ihren Einkäufen nach Hause kam, starb. Seither ist er besessen davon, alles noch schneller zu erledigen und noch schnelleren Service zu bieten.

Gegessen wird in der Redaktion nur auf Bestellung bei Essenslieferanten. Doch die Fahrradboten begehren auf, wehren sich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und beginnen zu streiken. Sie werden alle gekündigt und brennen schließlich die Zentrale des Lieferdienstes nieder. In der Redaktion herrscht Chaos, weil alle gewohnt sind, ihr Essen geliefert zu bekommen.

Lesung Elias Hirschl
ORF/Johannes Puch
Elias Hirschl

Jury nicht einig

Philipp Tingler fand den Text „so mittel“. Als er das das letzte Mal über einen von Klaus Kastberger eingeladenen Text sagte, hätte dieser den Bachmannpreis gewonnen. Hirschl habe also noch alle Chancen, so Tingler. Ihm gefalle die Erzählinstanz, eine „restbetrunkene, notkoffeinierte 31-Jährige“, quasi eine „Ingeborg Bachmann des spätmodernen Schreibpräkariats“. Mara Delius sah einen lakonischen Stil, während Vea Kaiser der Text zu lang war. Insa Wilke stolperte über den Bagger im Text, er erinnerte sie an ein Youtubevideo. Für Wiederstein war die Schilderung des Start-Up-Unternehmers noch untertreiben, was Klaus Kastberger zur Frage anregte, wie die Verhältnisse in der Schweiz seien. Er habe noch nie einen Unternehmer gesehen, der vom Krankenwagen abgeholt werde und sein Blut mit Rote-Beete-Saft mische – mehr dazu in Jurydiskussion Elias Hirschl.

Performance oder nicht?

Der zweite Lesetag endete eher ungewöhnlich mit einem kurzen Schlagabtausch zwischen einer Autorin und einem Juror. Mara Genschel, eingeladen von Insa Wilke, las ihren Text mit Schnurrbart und amerikanischem Akzent, was vom Publikum und der Jury mit Amüsement honoriert worden. Nicht aber von Philipp Tingler, der es „albern“ fand. Bei der Kritikrunde schaltete sich Genschel ein und sagte, es sei keineswegs eine Performance gewesen, sie habe sich nur schick gemacht. Tingler reagierte verschnupft.

Lobend besprochen wurden neben Genschel auch die Texte von der österreichischen Autorin Barbara Zemann und des im Irak geborenen und in der Schweiz lebenden Autors Usama Al Schahmani. Am ersten Lesetag fiel der Text von Alexandru Bulucz positiv auf und wurde wohlwollend diskutiert.

Die Jurymitglieder geben noch am Samstag ihre Punktewertung ab, wobei sie nicht für die von ihnen selbst Nominierten abstimmen dürfen. Kurzfristig wurde der Modus geändert: Jedes Jurymitglied vergibt nun statt 1 bis 9 Punkte nur noch 1 bis 4 Punkte. Der Justiziar addiert daraufhin die Ergebnisse und erstellt daraus die Preisträgerliste. Die Bekanntgabe startet erstmals mit dem am wenigsten dotierten Preis. Nur für den Fall, dass es bei einem Preis Punktegleichstand geben sollte, stimmt die Jury wie bisher öffentlich ab. Der Publikumspreis wurde per Onlinevoting Samstagnachmittag ermittelt