Behzad Karim Khani
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Jurydiskussion Behzad Karim Khani, D

Behzad Karim Khani las auf Einladung von Philipp Tingler „Vae victis“ (Einem Unterlegenen geht es schlecht). Ein Text über einen brutalen Gefängnisaufenthalt, der von der Jury unterschiedlich aufgenommen und interpretiert wurde.

Der Iraner Saam wird nach einem Raubüberfall in Berlin-Neukölln im Gefängnistransporter in die Haftanstalt gebracht. Auf dem Weg dorthin schlägt er einen anderen Mann nieder, um die Rangordnung zu klären. Dafür erhält er ein weiteres Jahr Haft zu den vier für den Raubüberfall. Im Gefängnis fühlt er sich den ersten Tag über wohl, die Realität bleibt draußen, er muss nichts mehr beweisen, es herrschte Ruhe. Dieses Gefühl schwindet, doch mit Schachspielen und Backgammon kommt er mit den übrigen Insassen aus, die für ihn so hässlich sind wie niemand, den er jemals gesehen hatte, und genau so dumm.

Sein jüngerer Bruder kommt zu Besuch, aber er verschweigt Saam, dass er im Drogenhandel steckt, einen Mercedes fährt und von Saams alten Komplizen verwöhnt wird. Ohne Angabe von Gründen wird Saam nach einiger Zeit in Einzelhaft gesteckt, zwei Monate lang. Langsam zerbricht er, entwickelt Tics, zählt Schritte, teilt Essen in seine Komponenten auf, schläft in einer selbst gebauten Deckenhöhle. Als sie Saam wieder in seine normale Zelle bringen, lässt er etwas in Einzelhaft zurück, das er als Verstand bezeichnet.

Insa Wilke Juryvorsitzende
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Insa Wilke

Wilke: Gute Genre-Geschichte

Insa Wilke startete mit der Diskussion, laut ihr hat man es beim Text mit einer guten Genre-Erzählung, der Knast-Erzählung, zu tun. Sie kenne das vor allem aus Fernsehserien wie „The Wire“. Denn Schluss mit der Fliege habe sie auch bereits im Fernsehen gesehen. Es gebe viele filmische Assoziationen, obwohl Jule Verne und Charles Dickens genannt werden. Sie würden den Text nicht dokumentarisch lesen, er erfülle die Gesetze des Genres „sehr sehr gut“.

Man habe ein Milieu, das homogen erzählt werde, einen begrenzten Raum, den Knast und die Figur, die als Ausnahmefigur in diesen Raum komme. Sie benutze eine gewählte Sprache und sei in der Lage zu reflektieren. Es gebe gleichzeitig eine Erzählung der Anpassung. Der Text habe Ansätze, an denen versucht werde, das Zeitgefühl im Knast zu beschreiben. Es sei ein sehr guter Genre-Text, das begrenze ihn jedoch auch, so Wilke.

Wiederstein: Es knallt

Michael Wiederstein sprang Wilke „ein Stück weit bei“, er fand den schnell geschnittenen und harten „Orange-is-the-new-Black-Beginn“ sehr gelungen. Es knallt und es werde kein Blatt vor den Mund genommen. Man wisse direkt, wo man sei, das funktioniere. Von hier an verfalle der Text in eine Art „Hipster-Boulangerie hinter schwedischen Gardinen“. Der Text scheine eine Collage eines weit größeren Textes zu sein, es werden Stellen aus einem längeren Text zusammengeschnitten, die, so Wiederstein, in der Abfolge wenig Sinn machen.

Vea Delius, Michael Wiederstein, Philipp Tingler
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Michael Wiederstein

Er hätte gerne mehr darüber erfahren, was im Gefängnis tatsächlich passiere. Es wirke unmotiviert zusammenkombiniert, die Fliegenszene am Ende versöhne ihn ein wenig mit dem Text.

Kaiser fand starke Stellen im Text

Vea Kaiser schloss sich Wiederstein in vielen Punkten an, sie habe ebenfalls ein großes Problem mit dem Perspektivwechsel. Der Text sei sehr stark gewesen, an den Stellen, an denen er über das Genre erzähle und es analysiere. Die von Wiederstein kritisierte „Hipster-Boulangerie“ fand sie großartig, so Kaiser. Der Geruch frischen Brotes sei das letzte, das sie in dem Text erwartete hätte. Die Desillusionierung, die in manchen Passagen herauskam und die Isolationshaft, die wirklich erzählt werde, das spreche sie am Text an.

Vea Kaiser und Philipp Tingler
ORF/Johannes Puch
Vea Kaiser

Ähnlich wie Michael Wiederstein glaube sie, dass es sich um einen Auszug aus einem längeren Text handle. Verdichtet auf die wenigen Seiten, ging es ihr zu schnell und die Perspektiven wären zu schnell gewechselt worden.

Delius: Tut dem Text Unrecht

Mara Delius sagte, sie glaube, man tue dem Text Unrecht, wenn man ihn zu schnell als Genre-Text lesen möchte. Sie habe die Schnelligkeit des Textes eher interessiert, sie wolle die Kategorie des Sounds in Erinnerung rufen, diese sei für den Text sehr wichtig. Die Art und Weise, wie im Text schnell erzählt werde, welche Bilder in welchem Klang kommen. Der Text habe sich für sie durch die Lesung verändert, sie hätte von dem Text gerne ein Hörbuch, auch wenn das etwas „onkelig“ klingen möge.

Der Punkt der Isolationshaft sei besonders tragend für den Text, das Gefühl von Isolation werde in der Sprache sehr trocken wiedergegeben, das habe Delius für den Text eingenommen.

Mara Delius
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Mara Delius

Tingler überrascht von Katalogisierung

Philipp Tingler sagte, es sehe das spätmoderne Motiv des „Durchlebthabenmüssens“, wie Wilke es bemerkt habe, als Qualitätsmerkmal für literarische Bewertung als kompletten Unfug, das sei sehr schlicht. „Das wurde doch gar nicht so gesagt“, warf Vea Kaiser ein.

Tingler wollte nun auf den Text kommen, auch er sei überrascht, wie schnell die Jury den Text bisher kategorisiert habe. Er sei dankbar, dass Mara Delius gesagt habe, man müsse genauer hinsehen. Der Text habe eine ganz eigene, einzigartige Erzählhaltung, „ein faszinierendes Gewebe aus unglaublicher Härte und großer Feinheit“, so Tingler. Das sei deshalb so gelungen, weil es sich genau in der Figur widerspiegle. Die Figur sei nicht als Repräsentant einer Identität dargestellt sondern als ein Individuum, die natürlich auch von Geschichte und Umfeld geprägt sei, aber es lege etwas Eigenes in dieser Figur.

Der Sound des Textes habe etwas von Kendrick Lamar und Rap, eine unglaubliche Härte. Zugleich erfahre man aber auch etwas über zwischenmenschliche Beziehungen, über die Axiome menschlicher Natur. Es gehe eine Tür auf, das erwarte er sich von Literatur, so Tingler.

Vea Kaiser und Philipp Tingler
ORF/Johannes Puch
Philipp Tingler

Wilke konterte Tingler

Es sei gut, dass man immer erführe, was Philipp Tingler von Literatur erwarte, erwiderte Insa Wilke. Sie habe nicht gesagt, dass man etwas durchlebt haben muss, um sich mit etwas auseinandersetzen zu können, sie habe lediglich ein Beispiel gebracht. Sie habe auch nicht gesagt, dass der Text ein Drehbuch sei. Sie finde es ein wenig arrogant, es als abwertend zu verstehen, wenn man sage, es sei eine Genre-Erzählung, so Wilke an Tingler gerichtet. Es sei keine Genre-Erzählung, das müsse man schaffen, eine solche Erzählung zu schreiben. Vielleicht schaue sie einfach mehr Serien als Tingler, sie sehe jedenfalls viele Dinge des filmischen Erzählens in dem Text. Man müsse es in der Literatur erst einmal schaffen, das lediglich mit der Sprache, ohne die Mittel des Films hinzubekommen, das sei sehr gut am Text, das sei aber auch seine Begrenzung.

Schwens-Harrant sieht Probleme der Perspektive

Brigitte Schwens-Harrant brachte zwei Ergänzungen aus der Textebene an: Das Problem mit der Perspektive sei für sie auch immanent, es gebe keine klare Entschiedenheit. Der Wechsel der Perspektive sei nicht immer klar, das schwäche die Hauptfigur. Als Tipp wolle sie geben, dass auch die Stilistik mehr Entschiedenheit brauche. Man könne einiges sprachlich anders aufgreifen, so Schwens-Harrant.

Michael Wiederstein sagte, es gebe ein paar Passagen, an denen er zwischen „Himmelhoch-jauchzend und zu Tode betrübt“ schwanke. Das brauche er nicht, so Wiederstein. Wenn ein Lektor über den Text gehe, sei er danach jedenfalls doppelt so gut.

Klaus Kastberger, Mara Delius, Brigitte Schwens-Harrant, Philipp Tingler
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Probleme mit brutalem Beginn

Klaus Kastbergers sagte, seinen Haupteinwand kenne man seit gestern, als Tingler sagte, er sei von ihm nominiert worden. „Da bin ich automatisch gegen ihn“, so Kastberger etwas schelmisch. Der Text sei ein typischer „Philipp-Tinger-Text“, Kastberger könne durchaus nachvollziehen, dass man die Komplexität der Figur gut finde. Es sei durchaus ein Genre-Stoff, den man aus anderen Medien könne. Kastberger habe andere Qualitätskriterien an Netflix-Serien als an literarische Texte.

Bei Texten finde er es immer sehr prekär, wenn es mit einer unglaublichen Gewaltfantasie beginne. Auch bei den zarteren Elementen habe Kastberger Probleme mit der „Creditbility“ des Textes. Er spreche dem Text ein wenig die Glaubwürdigkeit ab. Das Ende sei auch ein wenig zu „harter Tobak“, was sei jetzt in der Zelle geblieben, sein Verstand. Es sei ein leicht zu durchschauendes Verfahren des Textes, dass er dem „zartbesaiteten Klagenfurt“ zeige, wie ein richtiger Text funktionieren kann. Kastberger sah generell „zu viel Testosteron“ im Text.