Alexandru Bulucz
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Jurydiskussion Alexandru Bulucz D/ROM

Alexandru Bulucz las auf Einladung von Insa Wilke den Text „Einige Landesgrenzen östlich von hier“. Erinnerungen an Rumänien und Leben im Exil, was bei der Jury gut ankam.

Der 1987 in Rumänien geborene und heute in Berlin lebende Alexandru Bulucz erzählt in dem Text von seiner Kindheit in einem Land „einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“ und wie er Jahre später mit einem Sitznachbarn in einem Cafe eine Redewendung seines Vaters interpretieren möchte.

„Gott ist kein Zigeuner, aber auch kein Eisenbahner“ – so lautete die Redewendung seines Vaters, die der Ich-Erzähler nie so richtig verstanden hatte. Der Ich-Erzähler verliert seine Kindheit und seine Heimat, wobei er Heimat als einen Zustand und nicht als ein Land definiert. In seiner neuen Heimat sinniert er über Suizid und die Mittelmäßigkeit seiner Existenz.

Lesung Alexandru Bulucz
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Lesung von Alexandru Bulucz

Delius lobt Sprachgenauigkeit

Mara Delius leitete den Diskussionsreigen ein. Für sie sei der Text ein sehr gutes Beispiel dafür, wie besonders und sprachgenau ein Autor arbeite, dessen Muttersprache nicht Deutsch sei. Es sei ein Text, der sprachlich und literarisch bisher am interessantesten sei. Es gebe starke Bilder, wie das verballustrierte Treppenhaus, die Delius großartig fand. Viel wichtiger sei aber, wie der Text das Thema Heimat bzw. Heimatlosigkeit verhandle. „Heimat also nicht verstanden als Ort oder Utopie, sondern im Grunde als Form von Zeitgefühl und Zeitbewusstsein“, so Delius. Dessen Grenzen würden sich immer wieder verschieben und könnten nicht festgehalten werden.

Es sei beeindruckend, wie der Text „aus diesem Zeitbewusstsein und Zeitgefühl ableitet und dann eine Art von Tektonik der Empfindungen auffächert und uns zeigt“.

Klaus Kastberger mit Mara Delius
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Klaus Kastberger und Mara Delius

„Text profitierte vom Vortrag“

Nach kurzer Stille meldete sich Vea Kaiser zu Wort. Sie schloss sich Mara Delius an. Der Text habe auch vom Vortrag des Autors profitiert, „weil er genau dem, worum es geht, Struktur gibt, nämlich dem Mäandern von Gedanken“, so Kaiser. Das sei die einzige Möglichkeit in Bewegung zu bleiben in einem Moment des Stillstands durch Trauer und Schmerz. Der Motor dieser Bewegung sei die Sprache und wie sie hier eingesetzt werde habe sie sehr begeistert. Kaiser habe immer wieder „wunderbare Wortneuschöpfungen“ gelesen, wie z.B. das Obst und Gemüse „waren ausgeräubert“.

Kameramann Alfred Bein während Lesung von Alexandru Bulucz
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Lesung Bulucz

Diese Momente hätten sie darüber hinweggerettet, dass sie nicht immer sicher gewesen sei, ob jeder Seitenstrang am richtigen Platz sei. Kaiser sah auch viele Leerstellen, das unglaublich präzise Spiel mit der Sprache hätte aber ausgereicht, diesen Text sehr gelungen zu finden.

„Was hält die Geschichte zusammen?“

Auch Klaus Kastberger sagte, er habe das so aufgefasst. Es sei ein Text, der auf den ersten Blick sehr kompliziert aussehe, sodass man sich frage, worum gehe es eigentlich, was halte die Geschichte zusammen. Der Text habe für Kastberger auch deshalb Qualität, weil er prinzipielle Annahmen über das was Heimat, was Wirkungsweise von Geschichte sei in ihren Grundlagen in Frage stelle. Bei diesem Text würde es sich lohnen, welche Zeitkonzepte im Text stehen und welche Ortskonzepte dahinterstehen.

Juror Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger

Buluczc’ Text sei in einer anderen Form radikal als Sichelschmidts Text, nämlich weil er an die Grundlagen der Narration gehe. „Wo beginnt es eigentlich, es ist auch ein politologischer Text, wo beginne ich zu erzählen, welches historische Ereignis wird beschrieben?“
Der Text liefere dazu hinweise, beispielsweise das Jahr 1985. „Das kann man nachgooglen, es gab eine riesige Hungersnot und Kälte in Rumänien. Die Katastrophe wird benannt, aber es bleibt auf einer so allgemeinen Ebene, dass die Dinge hier wirklich auf universeller Ebene verhandelt werden“, konstatierte Kastberger.

Er habe auch noch keine Antworten, aber der Text stelle viele Fragen, das sei das Spannende. Er habe auch etwas sehr sehr Lyrisches an sich, ohne eine Empfindung für Lyrik werde man den Text nicht so „an sich herangkommenlassen“, so Kastberger.

Michael Wiederstein
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Michael Wiederstein

Wiederstein: Text stellt viele Fragen

Michael Wiederstein stimmte zu, dass der Text sehr viele Fragen stelle, er liefere aber auch Antworten. Wiederstein griff die Geometrie auf, die Kreismetapher ziehe sich durch den Text wie ein roter Faden. Die Sache mit dem Ditschen, dass man Kreise werfe im Wasser und dadurch Spuren hinterlasse, referenziere dasselbe Bild, so Wiederstein. Das Interessante sei, dass man darüber nachdenke, was am Ursprung stehe, wo diese Heimat sei.

Hier fehle dem Erzähler der Mittelpunkt von seinem größeren Kreis. Es gebe viele Kreise, die sich überlappen und so komme der Text auch von A nach B, hier kommt der Erzähler von einer Geschichte zur nächsten. Der Erzähler parallelisiere das Ganze ein Stück weit mit der Migrationsgeschichte, auf dem Hof, wo die Abläufe eigentlich klar gewesen seien. Hier bewege man sich auch in Kreisen, dieser sei aber klar definiert, so Wiederstein. In seinem neuen Leben seien die Kreise viel fragmentierter und die Abläufe nicht klar. Man müsse sich seine Geschichte selbst schreiben, genau das tue der Text. Der Erzähler verzweifle aber ein Stück weit daran, sonst hätte er keine Selbstmordfantasien.

Vea Kaiser und Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Tingler: „Feiner Hauch von Konventionalität“

Philipp Tingler wies in seinen Ausführungen daraufhin, dass der Text für ihn durch die Konzentration und die Ausschließlichkeit von innerer Handlung ein Problem damit habe, was man „erzählerische Ökonomie nennen könnte“. Darum, dass sich nicht immer erschließe, warum noch eine weitere metaphorische Ebene geöffnet wird. Bei aller Lyrik sollte man laut Tingler nicht übersehen, dass es im Text einen „feinen Hauch von Konventionalität“ gebe. Beispielsweise wenn angemerkt wird, dass der Mensch immer das Produkt sozialer Umstände sei, das sei für Tingler eine hochgradig problematische Auffassung, die aber nicht als problematisch dargestellt wird.

Schwens-Harrant: Nicht leicht zu lesen

Was der Text mache, seien die ständigen Schwingungen des Nachdenkens, so Brigitte Schwens-Harran. Das mache es nicht unbedingt leicht, den Text zu lesen. Der Text beginne bereits sehr reflektierend, wodurch man eher schwer Zugang dazu findet. Man müsse sich schon ein wenig mehr anstrengen und den Schwingungen nachgehen. Die Reflexionen finde sie ansprechend, beim genaueren Hinschauen, merke man aber, dass nicht alles gut dazupasse. Einige Formulierungen seien zu viel und nicht unbedingt sprachlich perfekt.

„Figur versucht, Kontrolle zu übernehmen“

Bei der sprachlichen Gestaltungskraft muss man laut Insa Wilke über Kleinigkeiten hinwegsehen und diese nicht in die Beurteilung des Textes aufnehmen. Der Erzähler könne die Schwingungen nicht laufen lassen, weil die Figur versuche, die Kontrolle zu behalten. Das versuche sie durch das Denken eines geometrischen Modells und vor allem durch die Grammatik. Sie sei sehr froh gewesen, einem Autor zuzuhören, der sich der Grammatik bewusst ist.

Insa Wilke
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Insa Wilke

Wilke sagte, sie glaube, dass der Autor an einen Stil anschließe, der nicht so tue, als wäre er etwas Neues, weil es sich um einen Widerstand gegen den Tod handelt. Das sei etwas Revolutionäres in diesem Text.

Kastberger: „Von Schiller wieder runterschrauben“

Klaus Kastberger wolle die Diskussion, wie er sagte, „wieder drei Drehungen von Schiller herunterschrauben“. Er teile diesmal wirklich eine Lektüreerfahrung, die Philipp Tingler angesprochen habe. Das komme sehr selten vor. Der Satz, dass der Erzähler ein Produkt soziokultureller Gegebenheiten sei, sei für Kastberger ebenso ein „Lexikonsatz“. Bei dieser Stelle habe er gedacht, warum das jetzt komme.

Es sei völlig für „den Hugo“, wo du zu erzählen beginnst, Hauptsache man fange an. Es gebe ein philosophisches Element im Text, das aber nicht in allen Details gelungen sei. Man merke aber, der Erzähler wolle woanders hin und nicht nur zur Schmerzensgeschichte der eigenen Herkunft. Der Text sei keine Erzählung, er sei anders gebaut und funktioniere nach anderen Kriterien als eine Erzählung.

Tingler und Kastberger belehren einander

An Tingler gewandt sagte Kastberger, einer Nicht-Erzählung vorzuwerfen, dass sie keine Ökonomie des Erzählens habe, sei so, als würde man einer Birne sagen, sie interessiere einen nicht, weil sie kein Apfel sei, so Kastberger.

Die Klassifizierung als Nicht-Erzählung stamme hier von Kastberger und nicht von ihm, erwiderte Tingler. „Dann können sie mir ja nicht vorwerfen, dass ich Kriterien anwende, die nur auf ihre Klassifikation zutreffen“, so Tingler. „Alles Kinkerlitzchen“, so Kastberger wiederum.