Rede Karin Bernhard
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„Wir wollen alle sehend werden“

Begrüßungsrede der ORF-Landesdirektorin Karin Bernhard anlässlich der Eröffnung der 46. Tage der deutschsprachigen Literatur 2022.

Ich darf Sie, sehr verehrte Damen und Herren, herzlich zu den 46.Tagen der deutschsprachigen Literatur im ORF Theater in Klagenfurt begrüßen. Die Pandemie hat uns in den vergangenen zwei Jahren Spezialausgaben abverlangt, nämlich – den einzigartigen international anerkannten Literaturwettbewerb – digital live abzuwickeln. Es ist gelungen! Aber ich denke, wir sind uns alle einig, dass die diesjährigen Tage der deutschsprachigen Literatur etwas Besonderes sind.

Landesdirektorin Karin Bernhard
ORF/Johannes Puch
Lesung Karin Bernhard

Die Autorinnen und Autoren, die Jury, unsere Ehrengäste, die Literaturbegeisterten, die Medien aus aller Welt und das ORF-Team sind persönlich anwesend. Digitalisierung ist auf Dauer kein Ersatz für unsere persönliche Anwesenheit. Besonders begrüßen darf ich den Landeshauptmann und Kärntner Kulturreferenten Peter Kaiser und nach ihm zuallererst Frau Ulrike Fink, die noch bei keinem Bachmannwettbewerb gefehlt hat; ohne ihren Mann Humbert Fink, dessen Todestag sich heuer zum 30. Mal jährt, würde es den Bachmannpreis in dieser Form nicht geben.

Die Stadt Klagenfurt, in diesen Tagen wieder Literaturhauptstadt, ist seit Bestehen des Bachmannpreises Mitveranstalter: Ich begrüße herzlich Bürgermeister Christian Scheider und den Kulturreferenten von Klagenfurt Franz Petritz. Begrüßen darf ich unsere weiteren Kooperationspartner: Vorstandsdirektorin Herta Stockbauer von der BKS Bank und den Kommunikationschef der KELAG, Werner Pietsch. Gemeinsam mit 3-Sat sorgt der ORF für eine professionelle Live-Übertragung der Lesungen: Herzlich willkommen Markus Dillmann von 3-Sat Deutschland. Seit einigen Jahren ist auch der Deutschlandfunk Partner des Bachmannpreises.

Ein herzliches Grüß Gott sage ich Diözesanbischof Josef Marketz und dem Superintendenten der Evangelischen Kirche Kärnten-Osttirol Manfred Sauer. Besonders begrüßen darf ich unsere Hauptdarsteller, die Autorinnen und Autoren, die Jury mit ihrer Vorsitzenden Insa Wilke und Anna Baar, die heute zum Thema „Die Wahrheit ist eine Zumutung“ die Rede zur Klagenfurter Literatur halten wird.

Im 2. Jahrhundert nach Christus nennt der lateinische Schriftsteller Aulus Gellius (geboren 125 n.Chr.) die Wahrheit „eine Tochter der Zeit“ und meint damit, man müsse nur abwarten, dann komme die Wahrheit schon von selbst ans Licht. Leonardo Da Vinci (verstorben 1519) ist sich diesbezüglich nicht mehr so sicher und fügt zwei Worte hinzu: „Die Wahrheit ist immer nur eine Tochter der Zeit.“ Damit kommen dem Zweifel und der Skepsis als Vorboten der Aufklärung die entscheidende Rolle zu: Die Wahrheit ist nichts Absolutes. Sie garantiert keine Sicherheit und hinterfragt alles Dogmatische in Religion, Wissenschaft und Politik.

Seither ist der Zweifel die Triebfeder der Erkenntnis, die Skepsis die Grundlage der Moderne und die Aufklärung eine Verpflichtung für uns alle: Gerade jetzt, in einer durch die Pandemie und einen Krieg vor der Haustüre Europas veränderten Welt: Nie wieder werden Patienten den Ärzten, die Schüler ihren Lehrern, die Wähler den Politikern, die Leser uns Journalisten, wir alle der Wissenschaft einfach so glauben können. Und das ist auch gut so. Denn wohl nie war es dringender, das, was ist, als das, was es ist, so ins Wort zu bringen, dass uns einfache Antworten auf dringliche Fragen erspart bleiben. Nicht genug ist dabei denen zu danken, die Worte finden, die uns sehend machen, wie das Ingeborg Bachmann in ihrer Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden im März 1959 fordert.

Gäbe es die Literatur nicht: Wir wüssten nichts von ihrer Kraft und ihrem Charme; wir wüssten nichts von der Kunst, die Abgründe des Lebens ins Wort zu bringen. Denn dort, wo uns das Schöne und das Schreckliche unvermutet zugemutet wird, verschlägt es uns zunächst die Sprache. Die Literatur weigert sich, in solchen Momenten sprachlos zu bleiben. Literatur lehrt uns das Staunen, aber sie lehrt uns auch das Erschrecken. Sie leugnet den Schmerz nicht, sondern führt in ihn hinein, weil erst dieser Schmerz uns für die Erfahrung von Wahrheit empfindlich macht.

In diesem Sinne wünsche ich den 46. Tagen der deutschsprachigen Literatur gutes Gelingen und bedanke mich jetzt schon bei allen, die zum Erfolg dieser Tage beitragen, vor allem aber bei jenen, die uns durch ihre Kunst des Schreibens die Augen öffnen! Denn: „Wir wollen alle sehend werden.“