Alexandru Bulucz
Renate von Mangoldt
Renate von Mangoldt

TEXT Alexandru Bulucz, D/ROM

Alexandru Bulucz liest auf Einladung von Insa Wilke den Text „Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“. Sie finden hier einen Auszug und als Verlinkung den gesamten Text als .pdf.

Er würde mit seinem Tischnachbarn eine Redewendung interpretieren, von der er seinen Anfang nehmen könnte. Es war eine Redewendung, die sein Vater einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen, häufig benutzte und die ihm bis heute rätselhaft geblieben war. Er hatte mit seinem Vater nie darüber gesprochen. Vielleicht war sie Teil eines kleinen Soziolekts, mit dem er nie in Berührung gekommen war, außer in den Reden seines Vaters. „Gott ist kein Zigeuner, aber auch kein Eisenbahner“, lautete sie. Dem Tischnachbarn gegenüber würde er den ersten Teil der Redewendung unterschlagen, denn es gab bessere Beispiele, an denen er die Landsleute einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen, ihres unterentwickelten Sprachbewusstseins und ihrer Sprachungerechtigkeit überführen könnte. Doch darum würde es ihm nicht gehen. Ihm war, als hätte die Redewendung etwas mit dem mosaischen Bilderverbot zu tun, und die Bilder des Roms und des Eisenbahners schienen ihm aus diesem Grund beliebig zu sein. Er würde also nur den zweiten Teil der Redewendung ansprechen, „Gott ist kein Eisenbahner“, und vielleicht mit einer im Internet aufgeschnappten Verballhornung einer anderen Redewendung in die Interpretation einsteigen: „Das Licht am Ende des Tunnels kann immer auch ein entgegenkommender Zug sein“.
Er hatte sein Leben auf ein einfaches geometrisches Modell reduziert. Seit der Katastrophe, die ihn zu einem Konsequenzenfürchtigen, einem Gefühlsinvaliden, einem entgeisterten Heimatunfähigen und was sonst noch mutieren ließ, hatte er Kreise um sich gezogen. Von dort aus nahm er drei Menschentypen wahr: Passanten, Tangenten, Sekanten. Die Passanten waren ihm die liebsten, er war ihr unbeteiligter Beobachter. Die Tangenten waren in der Regel harmlos, auch wenn manche Situationen grenzwertig waren und seine Beteiligung erforderten, was ihm missfiel. Schließlich die Sekanten, die stachen sich durch seine Kreise hindurch und wirbelten sein Leben durcheinander, was er abgrundtief verabscheute.
Heute war er in Gedanken bei seiner Kindheit einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen, beim Ditschen. Er war ein miserabler Ditscher gewesen. Seine flachen Kindheitssteine waren stets vier, fünf, höchstens sechs Mal gehüpft und dann gnadenlos untergegangen. Der Weltrekord lag inzwischen bei knapp neunzig Hüpfern. Bei stillsten Wassern, nahm er an. Die Seen, von deren Ufern er einst geditscht hatte, waren nie still gewesen. Knapp neunzig Hüpfer, die knapp neunzig größer werdende, einander jagende, Eindringlinge hinausdrängende Kreise auslösten. Das bräuchte er jetzt auch.
Es verlangte ihn wieder nach der verlorenen Zeit, nach der unwiederbringlich verlorenen Zeit. Er war eine Proust’sche Erfindung, das war ihm klar, mit allem, was dazu gehörte, voller Madeleine-Augenblicke.

Madeleine-Augenblicke, das klang für ihn zu prätentiös. Würde er nach seinen eigenen gefragt werden, er würde den schweizerischen Namen dessen, was auf Französisch Madeleine hieß, vorziehen und von seinen Schmelzbrötchen-Augenblicken sprechen. Schmelzbrötchen, das klang profaner, bodenständiger, das war nicht weit zum Schmalz, und ihm gefiel, dass so auch ein Schlachtprodukt wie Gänseschmalz einen Madeleine-Augenblick auslösen konnte.

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