Nava Ebrahimi Lesung
ORF/Johannes Puch
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Jurydiskussion Nava Ebrahimi

Die in Teheran geborene und in Köln aufgewachsene Nava Ebrahimi wurden von Klaus Kastberger eingeladen und las ihren Text „Der Cousin“. Ein Familiengeheimnis, das nicht nur geoutet, sondern auf der großen Bühne der Öffentlichkeit verraten wird.

Die Ich-Erzählerin trifft sich mit ihrem Cousin Kian, einem erfolgreichen Tänzer, im Lincoln Center in New York. Scheinbar unbeobachtet sprechen die beiden in einem leeren Konzertsaal über ihre Vergangenheit und ihre Flucht aus dem Iran.

TDDL 2021 Nava Ebrahimi Diskussion

Im Mittelpunkt steht die seit Jahrzehnten offene Frage, was dem homosexuellen Kian nach der Ausreise mit gefälschten Papieren in einem Männergefängnis in Bangkok passierte. Diese Frage wird in der Performance aufgelöst, am Ende erkennt Kians Cousine, dass ihr Gespräch für ein großes Publikum auf eine Leinwand außerhalb des Saals projiziert wurde und sie Teil seiner Performance war.

Nava Ebrahimi Lesung
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Mara Delius sah Gräben in der Jury

Mara Delius sprach an, dass bisher der Eindruck entstand, dass es Gräben in der Jury gebe, vor allem zwischen Philipp Tingler und Klaus Kastberger. Auf der einen Seite habe es Texte gegeben, die gut erzählen und von einer „Welt“ handeln und auf der anderen Seite manchmal etwas sperrige Ideen und „Wortkonstrukt-Texte“, die man „etwas gemein“ als „Rezensenten-Prosa“ bezeichnen könne. Der Text von Ebrahimi sei ein Text, der beide Seiten versöhnen könne. Der Text sei für sie „ganz toll“. Man könne beispielsweise sagen, der Cousin erzähle von den Spätfolgen einer Migrationsgeschichte, das wäre für sie aber zu bieder.

Klaus Kastberger und Mara Delius
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Mara Delius und Klaus Kastberger

Für sie handle der Text von einer Form der Anpassungsdruck, dem Versuch „ein Wahrgenommenwerden“ umzusetzen und sich von „Codiertheiten zu befreien“. Die beiden Figuren hätten sie sofort für sie eingenommen. Was Delius besonders gut gefiel, sei, dass Ebrahimi verschiedene Ebenen der Differenzierung aufmache, die dann in einer Art von Gewaltfantasie explodieren.

Tingler: Schlecht? Nö – so mittel

Philipp Tingler konterte, er wisse nicht, ob es in Delius Konstruktion passe, wenn er sage, er finde den Text „so mittel“. „Ist es ein schlechter Text? Nö, aber umwerfend ist er auch nicht“, konstatierte Tingler. Ihm gefielen die Dramaturgie, die Exposition, die Konfiguration des Paares aus Cousin und Cousine und auch das Ende. Jedoch müsse er feststellen, dass für seine Begriffe vieles am Text nicht stimme. Amerikaklischees, wie die Szene mit den gebleachten Zähnen, könne er überhaupt nicht leiden, diese Klischees finde er „billig und uninformiert“.

Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Auch in diesem Text finde die Befassung mit einer inneren Dynamik, vor allem im „erzählten Ich“, nicht statt. Stattdessen werde wieder ein fixes „Ich“ vor die Entwicklung gesetzt, es gebe ein „früher“ und ein „heute“, aber keine Kohärenz der Figuren in diesem Zeitbogen. Die Ich-Erzählerin stehe vor ihrem Cousin, als wäre sie eine Fremde, das finde er schade, so Tingler. Der Text habe aber in seiner Anlage und Komposition auch viel Gutes.

"Das Unerzählbare als Mittel der Kunst

Vea Kaiser stimmte mit Delius überein. Was sie beeindruckte, sei, wie es in dem Text darum gehe, das „Unerzählbare“, das „Unbeschreibbare“ durch Mittel der Kunst darzustellen. Gleichzeitig gebe es das Problem der drei Ebenen. Es gebe die Ebene der Geschichte, die der Familie zugestoßen sei, die Ebene, wie die Geschichte in der Kunst verhandelt werde und man habe darüber noch eine Ebene des Zusammentreffens der beiden Protagonisten.

Für Kaiser seien die drei Ebenen „leider nicht gleich gut gelungen“. Das Zusammentreffen werfe viele sprachliche Probleme und logische Fehler auf. Sie hätte sich gewünscht, dass diese Ebene ein wenig feiner behandelt werde, um nicht im Kontrast zu den anderen beiden Ebenen zu stehen.

Wilke sieht „schmerzende Fragen“

Für Insa Wilke waren die Texte von Heike Geißler und Ebrahamimi jene, die „überaus schmerzende Fragen auf der ästhetischen Ebene stellen“. Nämlich die Frage, sei es möglich, Erfahrungen zu vermitteln und die Frage, mache es einen Unterschied, wenn man wisse, woraus sich das Leid der Dargestellten speise. Eine weitere Frage, die sich stelle sei, ob es überhaupt möglich sei, zu sprechen. Ebrahimi fahre die „maximale Dramatik, Inszenierung und Symbolik“ auf. Wäre es so, dass nur die Geschichte auf der ersten Ebene eine Rolle spielen, dann würde sie Leid ausstellen, die Leser damit identifizieren und sie in eine „Scheinkatharsis“ des Mitgefühls entlassen.

Insa Wilke
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Insa Wilke

„Ob diese Katharsis überhaupt möglich ist, danach fragt dieser Text“, so Wilke. Er zeige eine Gesellschaft als Gefängnis, er zeige aber auch, dass er selbst ein Gefängnis sei. Das sei der „Zirkelschluss“ zu der Frage, ob man Erfahrung vermitteln könne und ob das Mitgefühl der Leserschaft echt sei.

Philipp Tingler erwiderte, er wisse nicht, was Wilke meinte.

Wiederstein: Will man von Gewalt erzählen

Michael Wiederstein meinte eher, der Text stelle die Frage, ob man von der Gewalt erzählen wolle. Das werde hier auf verschiedenen Ebenen oder sogar „scheinbar intermedial“ erzählt. So werde die Leerstelle gefüllt, man habe eine Auseinandersetzung von Künstlichkeit. Einerseits erzähle die Erzählerin die Geschichte in ihrem Buch nach, aber nicht so, wie sie passiert sei. Andererseits erzähle ihr Cousin die Geschichte nach, offenbar auch nicht hundertprozentig so, wie sie passiert sei.

Michael Wiederstein
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Michael Wiederstein

Am Ende werde mit der Inszenierung in einer Performance ein Ausgleich zwischen den beiden geschaffen und sie auch ein Stück weit öffentlich bloßgestellt, um das Vakuum, das entstanden sei, zu füllen, so Wiederstein. Das sei für ihn das hochinteressante am Schluss, das erinnere ihn an David Finchers Film „The Game“ an dessen Ende sich Michael Douglas von einem Hochhaus stürzt und in einem Luftkissen aufgefangen wird und die Menschen ihm applaudieren, dass er endlich ein guter Mensch geworden ist. Im Text werde das Ganze „schöner geframed“, indem der Cousin seine Cousine in den Arm nimmt und das Problem des Nichterzählens in doppelter Weise gelöst wurde. Er sei dem Text gerne gefolgt, schloss Wiederstein.

Kastberger: Wie lässt sich Leid darstellen?

Für Klaus Kastberger sei die zweite Ebene eine hochreflexive Ebene: Wie lasse sich Leid darstellen. Diese Ebene sei es, die dem Text fraglos seine Qualität verleihe. Die erste Ebene habe Brüchigkeit und es sei einiges drinnen, das nicht funktionieren kann. Kastberger sagte, er glaube, wenn man die erste Ebene des Treffens in New York als realistisch zu lesen versuche, dann funktioniere das nicht. Man dürfe nicht mit einer realistischen Lesart da hinein gehen.

Die Qualität des Textes sei es, dass ein Raum entworfen werde. Tingler fragte Kastberger, was für ihn gegen den Traum spreche. Als Traum wäre es für ihn zu simpel und zu wenig präzise, es sei etwas ähnliches wie ein Traum, antwortete Kastberger. Die realistische Erzählebene sei „absolut zerstört von den Fragen, die dahinter liegen“, wo es spiele, das wisse er nicht, das mache aber auch die Qualität des Textes aus.

Schwens-Harrant fand Ende „verstörend“

Brigitte Schwens-Harrant ergänzte zu der „hergestellten Künstlichkeit“, dass diese es erst erlaube, über sich selbst zu schreiben, das sei ein wesentliches Element. Was im Text auch anklinge, sei die Frage der Autobiografie, was sei ein Ich im Text. Sie fand das Ende „verstörend“, weil ein Element des Benutzens darin liege, ohne zu wissen, dass sie Teil einer Performance sei.

Das sei ja gerade die absurde Qualität der Konstellation, die vielleicht das Traumhafte ausmache, erwiderte Tingler.

Insa Wilke widersprach Kastberger, das Neue spiele im Text keine Rolle, es werden sehr alte Fragen gestellt. Es werde nichts gelöst im Text, sie glaube, die Hoffnung sei, dass jemand erkenne, wovon die Rede ist. Sehr schön fand sie, dass der Text versuche, ein Bild, eine Erzählung auf der Ebene herzustellen. Der Cousin tanze das Bild.