Lesung Dana Vowinckel
ORF/Johannes Puch
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Jurydiskussion Dana Vowinckel

Die Berlinerin Dana Vowinckel wurde von Mara Delius eingeladen. In ihrem Text „Gewässer im Ziplock“ geht es um eine jüdische Familie. Einerseits geht es um ein junges, pubertierendes Mädchen, andererseits um den abwesenden Vater und die Diaspora. Die Jury war einhellig angetan.

Der Text erzählt von Margerita, einem jüdischen Mädchen, das erwachsen wird, ihrem Vater, dem Vorbeter der Gemeinde in Berlin, und den Großeltern von Margerita in Chicago, bei denen das Mädchen zu Besuch ist und es dort hasst. Sie vermisst den Vater in Berlin und möchte zu ihm fahren. Doch die Großeltern, die sehen, dass sie in den USA unglücklich ist, beschließen, sie zu ihrer Mutter nach Israel zu schicken, ein Land, das sie nicht kennt, zu einer Mutter, der sie aus dem Weg gehen will.

Kaiser: Grandios gelungen

Vea Kaiser leitete die Diskussion ein. Der Text sei eindeutig ein Auszug aus einem längeren Text. Es werde eine Familiengeschichte erzählt, zum einen aus der Perspektive des Vaters und andererseits aus der Perspektive der Tochter. Kaiser konstatierte, dass die Wahl, zwei „diametral auseinanderliegende Perspektiven“ zu wählen, sei grandios gelungen. Die Perspektiven seien so unterschiedlich, der Vater, der sich mit Religion beschäftige und die Tochter, die einfach jung sein und sich verlieben will, aber bei den Großeltern in Langeweile lebt.

Vea Kaiser skeptisch
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Vea Kaiser

Auch die Art der Erzählung, den Blick für Details und Lebensgewohnheiten, fand Kaiser „wunderbar“. Sie freue sich darauf, was aus diesem Text noch werde.

TDDL 2021 Dana Vowinckel Diskussion

Wilke sieht Tradition des Erzählens

Laut Insa Wilke ist es ein Text, der nicht aus sprachskeptischer Tradition käme sondern aus einer realistischen Tradition des Erzählens. Vowinckel habe ein Bewusstsein für „den performativen Charakter von Sprache und ein Erzählen, das versucht, eine Welt zu errichten.“ Wilke fand wie Kaiser, Vowinckel habe ein gutes Gespür, wie viele Beschreibungen und Fachwörter es brauche, um eine Atmosphäre und eine Vorstellung von Räumen und Charakteren zu geben. Die Perspektive der Gemeinde fand Wilke besonders wichtig, hier lege ein Punkt, wo man „tolle Anlagen“ des Textes merke. Man könne aber noch Manches schärfen.

Insa Wilke
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Insa Wilke

„Blick von außen sehr wichtig“

Brigitte Schwens-Harrant griff Insa Wilkes Meinung auf. Auch sie fände den Anfang des Textes sehr wichtig, die Gemeinde, den Blick von außen, wo ein Thema aufgemacht werde, das sich durchziehe – nämlich das der Fremde. Die Entfremdung in der Familie sei verknüpft mit dem Pupertätsthema. Dies sei wiederum mit der „Diaspora der Familie“, der Zerstreutheit der Familie in der Welt in verschiedenen Kulturen verknüpft. Die Identitätssuche in der Pubertät sei im Text in gesellschaftspolitischer und kultureller Perspektive ein wichtiges Thema.

Laut Schwens-Harrant macht der Text eine bestimmte Atmosphäre auf, das Nachdenken über jemanden, über den man nichts wisse, werde „ganz gut beschrieben“. Wenn man in die Details gehe, falle jedoch einiges auf, wo sprachlich etwas schlampig gearbeitet wurde, so Schwens-Harrant.

Brigitte Schwens-Harrant
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Brigitte Schwens-Harrant

Wiederstein mochte Vaterfiguren

Michael Wiederstein könne sich Schwens-Harrant nur anschließen. Was ihm auffalle, seien die verschiedenen Vaterfiguren des Textes. Ritas Vater suche Trost bei einem Vater, nämlich dem „göttlichen Vater“, das sei eine schöne Art mit der „Wurzel- und Heimatlosigkeit, die mit der Diasporageschichte verbunden ist, umzugehen“, konstatierte Wiederstein. Der Text spiegle eine „Drei-Generationen-Diasporageschichte“ und reiße vieles an, er hoffe, dass noch ein längeres Buch folge.

Wiederstein sagte, man merke, dass vieles aus einem längeren Text zusammengestückelt sei, deshalb passen manche Sachen nicht zusammen. Insgesamt sei der „vergemeinschaftende Moment des Glaubens“ und die Tatsache, dass die Familie „höchstwahrscheinlich“ wegen des religiösen Vaters auseinandergebrochen sei, „recht gut dargestellt“.

Klaus Kastberger hört zu
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Klaus Kastberger

Kastberger gefielen Brüche

Klaus Kastberger bezog sich auf die doppelten Perspektiven des Texts. Das sei nichts Besonderes und ein traditionelles Mittel. Die Brüche gefielen ihm sehr gut, insbesondere der erste, indem das tief religiöse Empfinden des Vaters abgelöst werde durch die „Bröckel im Joghurt“, das finde er großartig. Solche Brüche hätte er sich vermehrt gewünscht. Der Text bewege sich mit seiner Thematik im Bereich eines „emarging market“, der Blick auf orthodoxes jüdisches Leben sei ein Thema, das in den letzten Jahren immer stärker aufgekommen sei. Es gebe anscheinend ein „neues Faszinosum“, die orthodoxen Welten vorgeführt zu bekommen.

Philipp Tingler
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Philipp Tingler

Das hänge mit dem Wunsch zusammen, andere Lebensformen auch sehen zu können, so Kastberger. In manchen Fernsehserien zu diesem Thema seien die Brüche radikaler als im Text von Vowinckel. Die entscheidende Frage, die sich ihm stelle, sei, ob der Text sich einer Mode anhalte oder ob er schon einen Schritt weiter sei. Das könne er nicht ablese, weil er einen größeren Zusammenhang entwerfe.

Unterschiedliche Welten nebeneinander gelten lassen

Für Insa Wilke sei es keine „Mode“, es gebe eine neue Generation, die die Existenz von parallelen Welten, von Kontinuitäten von Tradition und gleichzeitig Überschreibungen und Neuschreibungen erzählen. Sie sagte, sie glaube, dass diese neue Generation wie auch Necati Öziri zwar mit einem anderen kulturellen Bezugsrahmen arbeiten aber unterschiedliche Welten nebeneinander stellen und auch nebeneinander gelten lassen. „Es ist nicht mehr so, dass die eine die andere ablösen muss, sondern beides existiert nebeneinander“, so Wilke. Das sei eine ganz andere Vorstellung gesellschaftlicher Realität, es sein keine Mode, sondern eine Notwendigkeit und ein neues generationelles Selbstverständnis und Selbstbewusstsein. Das begrüße sie sehr.

Mara Delius sah „außergewöhnlichen“ Text

Mara Delius sagte, sie sei Wilke für diese „Unterstreichung“ sehr dankbar, sie halte den Text für „außergewöhnlich. Das habe mit der Perspektive zu tun, vor allem des jungen Mädchens. Der Text beschreibe nicht nur jüdische Lebenswelten, sondern versuche auch die Empfindungen in den Text zu bringen, die deren jeweilige Existenz oder Nicht-Existenz in den Protagonisten auslöse. Bei Rita sei es sehr wichtig, dass sie sich in ihrer Identitätssuche in einem „doppelt unsicheren Zustand“ befinde. Sie werde eine Frau und Jüdin, wisse aber noch nicht, welche sie sein wolle und wie sie aus der Übermacht der religiösen Traditionen herauswachsen könne. Es sei ein Text, der den „Topos der gepackten Koffer“ variiert und neu auflädt für einen neue Generation.

Tingler sah Text als sensualistisch

Philipp Tingler fand im Gegensatz zu Wilke den Stil des Textes nicht als realistisch, sondern als „sensualistisch“. Der Stil arbeite sehr mit Sinneseindrücken, das gefalle ihm sehr gut. Es sei großartig, dass man „das Krachen der Zähne der Großmutter auf dem Silberlöfel höre“. Der Text habe auch auf der psychologischen Ebene sehr gute Momente, es gebe grundlegende Momente von Empfindungen, die es der Leserschaft ermöglichen würden, sich in die Geschichte zu involvieren. Die Perspektive der Handlungsstränge finde Tingler „anspruchsvoll“ und „reizvoll“, jedoch gebe es zu viele Auslassungen.

Mara Delius Jurorin
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Mara Delius

Die Mutter sei beispielsweise sehr abwesend im Text, diese große Art von Leerstelle könne man nicht bringen.

Für Mara Delius war die Schlussszene gerade so wichtig, weil die Mutter gar nicht groß vorkomme. Rita werde gefragt, ob sie heimfliege oder die Heimat verlasse und beides stimme irgendwie und irgendwie auch nicht, so Delius.