Lesung Lukas Maisel
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Jurydiskussion Lukas Maisel

Der Schweizer Lukas Maisel las auf Einladung von Philipp Tingler den Text „Anfang und Ende“. Er handelt von einem beziehungsunfähigen Paar und den vielen Möglichkeiten der schnellen Liebe in den sozialen Meiden, die die junge Beziehung schließlich zerstört.

Der namenlose Protagonist und seine Freundin Sara befinden sich auf dem Weg zu ihren Eltern und überlegen sich, welche Kennenlerngeschichte sie ihnen auftischen sollen. Dass sie sich über eine App kennengelernt haben, wollen sie verschweigen. Noch auf dem Weg zu ihren Eltern geraten sie in Streit über ihren Beziehungsstatus. Sara verschwindet entnervt, er sucht sich neue Dates über die Apps.

Lesung Lukas Maisel Vea Kaiser
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"Bourgeoiser Dandy in seiner Lächerlichkeit

Mara Delius meldete sich zuerst zu Wort. Das Erstaunliche an dem Text sei die Sicherheit in der Komposition, die Plastizität der Figuren, der Text habe alles im Griff. Der Leser sehe die beiden Protagonisten und ihre jeweiligen Neurosen sofort vor sich. Das treffe vor allem auf den Mann zu. „Den Mann lese ich als einen postmodernen, spätbourgeoisen Dandy in seiner, im Grunde, bedauernswerten Lächerlichkeit“, so Delius.

Selbstbespiegelung werde im Text zum Formprinzip erhoben. Sie habe sich gefragt, inwiefern man so ein Kurzportrait der „millennialartigen Generation“ und ihres Liebeslebens nicht schon einmal in ähnlicher Form bei Leif Randt gelesen habe.

Mara Delius
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Mara Delius

Kein Kennenlernen ohne Datingplattform?

Vea Kaiser antwortete darauf, dass sie so etwas noch nicht gelesen habe. Der Text sei „großartig“, weil er sich traue, etwas zu erzählen, das alltäglich geworden sei. Man könne sich nicht mehr kennenlernen, ohne diverse Datingplattformen zu nutzen. Die Literatur hätte die Aufgabe, sich mit solchen Entwicklungen auseinanderzusetzen, so Kaiser.

TDDL 2021 Diskussion Lukas Maisel

Lukas Maisel sei eine „großartige Anatomie der Tinderwelt gelungen“. Der Text handle auch von der Sehnsucht nach der Welt eines anderen Kennenlernens und der Angst ausgewechselt zu werden, die dazu führe zu einem Auswechseln allzeit bereit zu sein. Die Entwicklung der permanenten Verfügbarkeit und das Verharren in der Ironie, sei für sie sehr gelungen dargestellt. Kaiser sagte, sie hätte sich über die weibliche Figur mehr Informationen gewünscht, um ihr Handeln zu verstehen.

Perspektive hält Distanz zum Erzählten

Insa Wilke merkte an, hätte sie das Gesagte im Text gelesen, wäre er „schlicht fad“. Sie glaube, dass es wichtig sei, dass die Perspektive eine Distanz zum Erzählten wahre. Die Figur im Text laufe „schnurgerade und eben“, der Autor habe sich aber gewissermaßen „für das Skateboard entschieden“, so Wilke. Sie habe den Eindruck, es gehe um etwas anderes, als um die Tinder-Welt. Es gehe um Wertung – sie lese den Text als einen Text über das Erzählen und die Frage, was ist eine gute Geschichte. Der Autor habe die „Frechheit“ zu sagen, dass ein Text einen Anfang und ein Ende habe.

Disput Tingler Kaiser
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Tingler verteidigte seinen Text

Im Zwischenraum treffe das zu, was Bertolt Brecht gesagt habe: „Boy meets girl oder andersherum“. Auf der Oberflächenebene habe er eine Komik, aber der Verweigerungstext, der darin stecke und thematisiere, dass Wertung Begegnungen zwischen Menschen schwierig mache, das interessiere sie, so Wilke. Die Begegnung mit einem Text müsse vor der Wertung stehen, das sei das Schwierige.

Schwens-Harrant wollte gegenbürsten

Brigitte Schwens-Harrant sagte, sie wolle „gegenbürsten“. Wenn es nur ein Text über die „Wisch-und-Weg-Gesellschaft“ wäre, in der Beziehungen stattfinden, dann sei er ihr von Beginn an zu überkonstruiert. Man merke eine bestimmte Absicht, alle Themen abzuhandeln, die in Zusammenhang stehen. Von den Namen bis hin zu den Dingen, die peinlich seien. Die Narration sei ein Thema, der Titel „Anfang und Ende“ sei bereits ein Hinweis.

Liebesgeschichten seien immer verbunden mit Narrationen und in sich eine Narration. Sie sagte, sei finde, Maisel hätte zu dick aufgetragen.

Wilke sagte, sie glaube, es müsse überinstrumentiert sein. Beim stillen Lesen habe sie die Figuren viel „nervöser“ und „hibbeliger“ miteinanderreden hören, nicht so getragen, wie Maisel sie gelesen hätte. Aufgrund des parodistischen Charakters finde sie den Text nicht bieder.

Klaus Kastberger
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Klaus Kastberger

Kastberger geht alles zu schnell

Klaus Kastberger sagte, er hatte beim Lesen und Zuhören eine paradoxe Empfindung, was nichts Schlechtes sein müsse. Er wunderte sich, dass alles so schnell gehe. Eine Frau sei weg, die nächste gleich da. Es leuchte ihm ein, dass es auch eine Beschreibung der Tinder-Welt sei, er hatte aber nicht das Gefühl, dass der Text darüber etwas sage, was er nicht schon lange gewusst habe. Kastberger sagte, er habe nicht das Gefühl, dass die Figuren psychologische Entwicklung im Text erfuhren.

Unter der Ebene der Schnelligkeit gab es für Kastberger dann aber auch eine quälende Langeweile in dem Text. Interessant fand er den Text, weil dahinter eine erzähltechnische Welt aufgehe. Kastberger vermisste, dass zu wenig über die Formen nachgedacht wurde und zu sehr auf die Geschichte fokussiert wurde, das sei eine Schwäche des Textes. Er gebe Insa Wilke, Brigitte Schwens-Harrant und Vea Kaiser zu allem, was sie über den Text gesagt hätten, „zu hundert Prozent“ Recht.

Wiederstein: „Unrettbar verloren“

Michael Wiederstein sagte, man wisse, dass Geschichten Menschen und auch Paare machen. Es gebe auch eine Entwicklung im Text. Der Höhepunkt sei für ihn, das Vernichtende „es war schön, dich kennengelernt zu haben“, das der Protagonist zu der nichtssagenden Frau sagte, die er traf. Wiederstein störte, dass versucht werde, diesen „telenovelaartigen“ Text mit dem Prädikat parodistisch auf eine höhere Ebene zu hieven.

Brigitte Schwens-Harrant, Insa Wilke und Michael Wiederstein
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Michael Wiederstein

Er habe das Gefühl, das gebe der Text nicht her, auch von der Form her nicht. Der Protagonist sei das „ultimative Männerklischee“. Sara sei hingegen hysterisch und nachtragend und alle anderen Frauen, die der Protagonist treffe, seien schön. Spätestens beim „Rapunzelende“ des Textes habe Wiederstein endgültig zugemacht, er empfahl, den Debütroman von Maisel zu lesen. Das sei eine völlig andere Liga als dieser Text. Dieser sei „unrettbar verloren“.

Tingler: "Universelles menschliches Problem

Philipp Tingler zeigte sich erstaunt, dass Wiederstein keinen Zugang zu diesem Text gefunden habe. Der Text biete etwas, was er sich von Literatur wünsche, nämlich die Verwobenheit von Zeitbezogenheit und Zeitlosigkeit. „Dieser Text stellt ein universelles menschliches Problem dar – das der Annäherung, die Schwierigkeiten der menschlichen Annäherung und wie überwindet man den grundsätzlichen Graben, der zwischen den Menschen existiert“, so Tingler.

Das werde im Text übersetzt in die heutige Zeit, das romantische Liebesideal werde kontrastiert mit den technischen Möglichkeiten, dem „Zur Seite wischen“. Der Text sei sehr gelungen, so Tingler.

Wilke sieht Kabinettstück

Insa Wilke schloss an Kastberger an, der Text sei ein kleines Kabinettstück. Für die Situation passe er sehr gut, das begrenze den Text aber gleichzeitig.

Vea Kaiser fand, dass der Text in der Diskussion noch großartiger geworden sei. In der Figur käme eine große Unsicherheit zu Tage, der Wunsch, etwas Besonderes zu sein.

Der Selbstzweifel werde durch den Erzähler hervorgerufen, erwiderte Michael Wiederstein. Die meisten Texte würden universellen Fragen hinterherjagen, das hieße aber noch lange nicht, dass es Maisels Text gut machen würde. Wiederstein blieb dabei, die anderen Jurymitglieder würden den Text überinterpretieren.

"Unter der Last des Einladers zusammengebrochen

Kastberger erlebte in der Diskussion, wie ein Text unter der enormen Last des Einladers Philipp Tingler völlig zusammenbreche. Das sei keine Last, Kastberger diskreditiere den Autor und den Text, so Tingler. Der Text sei nicht begrenzt, er zeige den Kontext, in dem wir leben. „Wenn hier einige dafür zu alt oder zu verschlossen dafür sind, dann tut mir das Leid“, so Tingler.