Verena Gotthard Lesung
WDW-Film
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Jurydiskussion Verena Gotthardt

Die gebürtige Klagenfurterin Verena Gotthardt wurde von Mara Delius eingeladen. Sie las ihren Text „die jüngste Zeit“. Darin geht es um Erinnerungen an längst vergangenen Zeiten. Die Jury zeigte sich von der Radikalität der Form begeistert, bemängelt wurde dennoch der Mangel an Zeitwörtern.

Im Text werden Erinnerungen im Jahresreigen beschrieben. Beispielsweise an den Tod eines Fischers, an Sommermonate auf der Alm mit den Großeltern, die erster Reise ans Meer, einen gebrochenen Arm in der Kindheit oder an Verwandte die starben, ohne dass das Kind verstand, wohin sie gegangen sind.

Wiederstein sieht „bekanntes Prinzip“

Für Michael Wiederstein war klar, was der Text tue. Man habe es mit einem bekannten Prinzip zu tun, es werden Fotos angeschaut. Diese funktionieren als eine Art Katalysator für die eigene Familiengeschichte. Diese wird weitergesponnen, idealisiert und es werde der Imagination die Hand gereicht. Wiederstein bezeichnete es als „kameralistisches Erzählen“, die Fotos seien präzise beobachtet und wiedergegeben.

Michael Wiederstein
ORF/Johannes Puch
Michael Wiederstein

Man bekomme ein Panoptikum der Familiengeschichte, wo das Vergangene dem heutigen ein Stück weit die Hand reiche. Es sei frappierend, dass keine Katastrophen erzählt werden, man habe es häufig mit Idyllen zu tun. Es gebe keine Kriege oder Unfälle. Das Interessante an dem Text sei, dass so viel erzählt wird, jedoch gleichzeitig, das Wichtigste nicht erzählt wird. Das sei eine schöne Pointe, aber wenig innovativ. Wiederstein gefiel das und er habe dem Text gerne gefolgt.

Wilke: Mut zur breiten Erzählung

Insa Wilke stellte sich die Frage, ob das Wichtigste nicht erzählt werde oder ob es permanent erzählt werde – nämlich der Ablauf der Zeit. Zeit als Kontinuum und die Zäsuren, die es doch gebe, wenn die Autorin schreibe, dass zwei nicht mehr da seien. Wilke gefiel ebenfalls an dem Text, dass er den Mut habe, breit zu erzählen. Auch die stilistischen Prinzipien fanden bei Wilke Anklang. Es gebe einen relativ regelmäßigen Wechsel der Kadenzen der Satzenden – betont und unbetont – daraus ergebe sich ein Kontinuum im Klang.

Gleichzeitig gebe es elliptische Sätze, mal würden die Subjekte fehlen, mal seien die Prädikate nicht vollständig. Das seien für Wilke die Zäsuren. „Das ist gleichzeitig auf die Länge des Textes sein Problem“, konstatierte Wilke. Der Text werde irgendwann sehr schwer durch diesen Stil. Zum Schluss gebe es noch eine Wende, das Grausame des Todes komme herein, aber auch das Grausame einer Gemeinschaft, in der nichts erklärt werde. Wenn das Kind nicht verstehe, wohin die Verwandten gehen.

Delius sieht hermetischen Text

Mara Delius entgegnete Wilke, dass es sich hierbei durchaus um einen sehr hermetischen Text handle, weil er eine metaphysische Frage auffächere. Er erzähle von Zeit und dem Versuch, das Vergehen von Zeit in Sprache zu bringen. Der Text beginne mit einer einfachen Szene, mit einem jungen Mädchen, das einen Abhang hinunterrolle und unten als Erwachsene ankomme.

Mara Delius
ORF/Johannes Puch
Mara Delius

„Wie Alice im Wunderland“

Diesem „Alice-im-Wunderland-haften-Mädchen“, das in einer „Michael-Haneke-artigen-Bergwelt“ aufwächst, folgt der Text „rollend“ und „fallend“ in verschiedene Stimmungen. Der Text überzeugte sie, weil es keine lineare Erzählung sei, sondern eine assoziative, ganz eigene Sprache in Bildern.

Klaus Kastberger fiel auf, dass es ein Text sei, dem beinahe gänzlich die Zeitwörter und vor allem die Hilfszeitwörter fehlen. Er nehme an, das sei von der Autorin intendiert. Für seinen Geschmack hätte sich, Kastberger „alle fünf Seiten so ein kleines Hilfszeitwort gewünscht, das um die Ecke biegt“. Der Text halte sein Formprinzip bis zur absoluten Qual des Lesers durch, das sei radikal und konsequent.

Kastberger sagte, er habe sich nicht vorgestellt, dass in dem Text Fotografien vorkommen, er habe sich vorgestellt, dass der Text und seine Stilistik die Bilder schaffen würden. Es war ihm trotzdem zu viel, weil der Text nicht viel Neues sage. Die Grausamkeit liege in der österreichischen Literatur oft hinter den Idyllen. „Die Bilder sind gemalt, bevor ich sie in dem Text wahrgenommen habe“, konstatierte Kastberger. Die Form sei „super“ aber noch „zu wenig gefüllt“.

Klaus Kastberger
ORF/Johannes Puch
Klaus Kastberger

Kaiser: Nicht linear erzählt

Vea Kaiser fand es gut, dass der Text nicht linear erzählt war. Die Schilderung des Vergehens von Zeit und mit Sprache eine Welt festzuhalten, die im Untergang begriffen sei, die „bäuerlich-katholische Welt“ sei gelungen. Dennoch schließe sie sich Klaus Kastberger an, auch ihr fehle „das Neue“. „Es waren zu viele Topoi der klassischen Heimatliteratur drinnen“, so Kaiser. Ihr Hauptproblem seien jedoch die übermäßig gebrauchten Adjektive gewesen.

„Alt“, „groß“, „klein“ kämen in einer zu großen Fülle vor, Kaiser hätte sich mehr Kreativität und Abwechslung gewünscht. „Wenn keine Verben drinnen sind, dann müssen ja die Adjektive es sein, wenn sie die auch noch rausgenommen hätte, dann wäre ja gar nichts mehr übriggeblieben“, erwiderte Klaus Kastberger.

Erinnerungen an Geißler-Text

Für Insa Wilke spielte weniger die Frage nach etwas Neuem eine Rolle, sondern möglicherweise die Haltung des Textes. Wilke sah die Geschichte als einen Spiegeltext zu Heike Geißlers Erzählung vom ersten Lesetag. Bei Geißler wird Widerstand zelebriert, bei Gotthardt Demut, so Wilke. Ihr falle als Filmemacher nicht Michael Haneke ein, sondern Edgar Reitz.

Philipp Tingler fand es faszinierend, wie Insa Wilke es schaffte, wie er es sagte, alle Texte auf Heike Geißler zu beziehen. Das sei ihre Antwort auf Tinglers Transzendenz, erwiderte Wilke neckend. Tingler sagte, er habe großen Respekt vor dem Gestaltungsfilm von Gotthardts Text. Auch er sehe die Radikalität, die der Text durch die Form ausdrückt. Was die Motivik angehe, sei ihm der Text „zu locker“.

Melodie des Textes

Für Mara Delius ist es „ein Glücksfall“, dass man mit diesem Text beim entscheidenden Prinzip in der Literaturkritik angekommen sei, nämlich bei der Frage nach der Form und der formalen Gestaltung des Textes. John Burger sei für den Text ein wichtiger Stichwortgeber mit der Idee des „Halberblickten“, so Delius. Der Text habe eine eigene Melodie, die man beim Lesen seltsam nachhaltig eingesponnen bekomme.

Brigitte Schwens Harrant
ORF/Johannes Puch
Brigitte Schwens Harrant

Schwerfälligkeit ohne Verben

Brigitte Schwens-Harrant kritisierte, man könne hinterfragen, ob man, wenn man keine Verben einbaut, ein wenig variantenreicher vorgehe. Sie glaube, dass das eine gewisse Schwerfälligkeit entstehen lasse, mit dem Gefühl „das kenne ich schon“. Sie freue sich aber sehr, dass die Autorin etwas probiert habe. Klaus Kastberger fielen Sachen auf, die einen herausreißen, wie beispielsweise „ungemütlich und ehrlich scheint die Zeit an den Fingern zu kleben“. Das gehe nicht und passe am Text nicht, so Kastberger. „Stark ist der Text, weil die Bilder einfach so sind, und die müssen behauptet werden.“