Lesung Anna Prizkau
ORF/Johannes Puch
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Jurydiskussion Anna Prizkau

Die in Moskau geborene Anna Prizkau las auf Einladung von Philipp Tingler. In ihrem Text „Frauen im Sanatorium“ geht es um eine Frau, die einem Flamingo im Park der Klinik nach einem Selbstmordversuch von ihrem Leben und dem Scheitern der Eltern erzählt.

Nach einem Selbstmordversuch befindet sich die Ich-Erzählerin in einem Sanatorium mit anderen Patientinnen und Patienten. Oft geht sie in den Kurpark, wo sie einem Vogel, den sie Pepik nennt, ihre Lebensgeschichte erzählt. Wie sie mit sieben Jahren mit ihrer Familie aus Samara in Russland nach Deutschland kam, wie sich ihre Eltern trennten, ihre Mutter krank wurde, ihr Vater sie misshandelte und wie sie selbst immer verzweifelter wurde.

Lesung Anna Prizkau
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Lesung Anna Prizkau

Kastberger: Geschichte liegt offen zu Tage

Als erster meldete sich Klaus Kastberger. Man brauche die Geschichte nicht besonders zu erklären, sie liege „offen zu Tage“. Es gehe um eine Immigrationsfamilie, Schwierigkeiten in der Familie bis hin zu den Haustieren sowie die Übertragung des Schicksals der Mutter auf die Tochter. Er habe aber das Gefühl gehabt, dass es „auf eine zu große Bühne gestellt ist“. Es sei zu sehr das Stilmittel des 19. Jahrhunderts, das habe ihm die Botschaft wieder etwas genommen.

TDDL 2021 Diskussion Anna Prizkau

Delius sieht „trickreichen Text“

Mara Delius sagte, ihr gehe es ganz anders. Es sei ein sehr trickreicher Text, eine junge Frau, die an Deutschland krank wird. Die Erzählerin taumle als Wiedergängerin des alten Landes, aus dem sie komme, hinein in eine „Unbehaustheit“ der neuen Welt. Eine mittelmäßige Autorin hätte das unendlich einfach auserzählt. Anna Prizkau sei aber keine mittelmäßige Autorin, so Delius. Sie erzähle die Geschichte sehr kunstvoll. Der Stil des Textes sei ein neusachlicher mit surrealistischen Elementen, der zur Illustration einer eigenen Verzweifeltheit der Ich-Erzählerin dient. Das sei quasi das Gegenteil einer Literatur, die der Erkenntnis hinterherläuft oder die etwas, was sie bereits weiß, brav auserzähle, so Delius.

Mara Delius
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Mara Delius

Schwens-Harrant: Thema sehr wichtig

Brigitte Schwens-Harrant sagte, sie finde das Thema des Textes sehr wichtig. Beim Stil habe sie aber ihre Zweifel. Beim Lesen sei ihr aufgefallen, dass das Gesprochene in den Dialogen genau dasselbe wie der Erzähltext sei. Die Lebendigkeit von Dialogen sei sehr wichtig, das finde sie hier nicht sehr gelungen. Die Farbe rot ziehe sich durch den Text, so Schwens-Harrant. Das finde sie sehr gelungen, der Text sei aber zu „adjektivlastig“.

Brigitte Schwens Harrant
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Brigitte Schwens Harrant

Insa Wilke meinte, sie finde viel Gutes im Text. Sie schrecke auch „mit einer gewissen Dreistigkeit nicht davor zurück, einen kleinen Hund zu quälen und uns damit zu packen“, so Wilke. Die Rhythmisierung des Textes werde nicht nur in den Erinnerungssequenzen, sondern auch in der Gegenwartsebene angewendet. Das sei eine Ungenauigkeit und Unstimmigkeit, die sie wahrnehme. Das bringe das Ganze auf eine Ebene. Wilke sagte, sie müsse bei dem Text von Prizkau an Christine Lavant denken, an die Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus.

In Prizkaus Text finde sie jene Stellen am Stärksten, an denen die Ich-Erzählerin mit Patienten spricht. Da komme auch eine gewisse Boshaftigkeit zu Tage, die sei bei Christine Lavant sehr stark. Eine stärkere Note davon, hätte den Text noch besser gemacht, so Wilke.

Kaiser: Text wie russische Puppe

Vea Kaiser widersprach Insa Wilke. Es sei nicht klar, wovon der Text spreche. Es gehe auch um die Geschichte eines schweren emotionalen Missbrauches einer Tochter durch die Mutter. Das zeige das Großartige des Textes, er sei wie eine „russische Puppe, in der noch immer eine Ebene drinnen ist“. Anna Prizkau sei eine Meisterin der Kurzgeschichte, die so viele Ebenen transportierte, die man nicht immer gleich bemerke. Der Text operiere mit drei verschiedenen Bewusstseinsebenen.

Einerseits den Alltag im Sanatorium mit den Figuren, die dort kaserniert seien, dann die Rückblicke in die Vergangenheit und auch das „Verlorengehen in dem Zustand zwischen Tabletten und Behandlungen“, so Kaiser. Es sei eine „grandiose Aufnahme von einem Bewusstsein“, das sich selber in Frage stellt.

Insa Wilke
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Insa Wilke

Diskussion über offenen Fragen im Text

Für Schwens-Harrant erklärte das erst recht nicht, dass der Stil einheitlich durchgehe, sowohl von Figuren und Ebenen. Es sei eine offene Frage. Kaiser erwiderte auf die offene Stilfrage, sie glaube nicht, dass man irgendeinem Text gerecht werde, wenn man versuche, ihn krampfhaft so zu lesen, dass die Figur so spreche, wie der Erzähltext.

Insa Wilke fand die Frage relevant und wichtig für Schreibende. Es sei die Schwierigkeit von emanzipatorischen Texten, dass auf der semantischen Ebene etwas aufgebaut werde, gegen das der Text stilistisch arbeite. Die Autorin habe die Fähigkeit dazu, dass auch auf der Sprachebene eine Entsprechung gefunden wird. Das könne manchmal „kontrapunktisch“ eingesetzt werden, aber trotzdem müsse man darauf achten.

Michael Wiederstein
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Michael Wiederstein

Wiederstein: Themen, die in Klagenfurt ziehen

Michael Wiederstein sah in dem Text alle Themen behandelt, die in Klagenfurt immer „ziehen“ würden. „Wir haben eine Einwanderungsgeschichte, wir haben Suizid, wir haben Flamingos, Hunde, Familienprobleme“, so Wiederstein. Das sorge dafür, dass der Text auseinanderfalle, er werde nicht zusammengebunden, da es kein Konzept gebe, dass alles so verschränke, damit alles Sinn mache. Er fühle sich als Leser und Kritiker unterfordert. Wilke wendete ein, dass der Text sehr stark mit intertextuellen Bezügen arbeite. Sie habe den Verdacht, es gebe viele Bezüge, die sie nicht erkenne, dass sie sich in der russischen Literatur nicht so auskenne.

Phillip Tingler
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Philipp Tingler

Tingler sieht außergewöhnlichen Text

Philipp Tingler fand die Diskussion sehr faszinierend und als Zeichen dafür, dass es ein außergewöhnlicher Text sei. Für ihn verkörpert er ein Ideal von Literatur, weil er es schaffe eine, in lakonischer Eleganz dargestellte Oberfläche, durchzuscheinen. Jede „Vereindeutigung wird wie von einer Säure zersetzt und angegriffen bis selbst die scheinbare Wirklichkeit nur noch wie eine Möglichkeit aussieht“, so Tingler.

Das Sanatorium sei „ein klassischer Topos, zugleich ein Panoptikum, ein Brennglas der Gesellschaft, wo überaus intrikat die verschiedenen Geschichten in der Geschichte miteinander verwobenen werden“. Er finde es überhaupt nicht irritierend, dass es einen einheitlichen Rhythmus gebe. Es gebe große Themen und trotzdem sei der Text so unglaublich unprätentiös.

Wilke wollte von Tingler wisse, was er damit meine, dass ein Text „durchscheinend“ sei. Damit meine er Transzendenz, erwiderte Tinger. Hinter der Oberfläche werde etwas anderes deutlich. Wilke wollte dafür ein Beispiel aus dem Text. Die Konstellation der Gruppensitzung sei ein Beispiel dafür, so Tingler. Es wirkt wie ein Zusammentreffen von Gesellschaft, der Blick werde geöffnet, was dahinter liegt an gesellschaftlicher und politscher Bewegung. „Also eine Parabel sozusagen“, konstatierte Wilke. Es soll über das Gelesene hinausgehen, so Tingler. Es werden Erfahrungswelten geöffnet, auf die man sich beziehen kann.

Klaus Kastberger bei der Lesung von Necati Öziri
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Klaus Kastberger

Kastberger: Faszinierende Diskussion

Klaus Kastberger sah ebenfalls eine faszinierende Diskussion. Er habe aber seine Schwierigkeiten damit gehabt, die Erzählperspektiven des Textes zu verstehen. Was ihm am Text gefiel, seien Sätze gewesen, wo man nachvollziehen könne, dass die noch aus der Kindheit kommen.

Für Tingler manifestiere sich im Ende des Textes noch einmal eine große Qualität, eben seine Offenheit. Es bleibe alles in der Schwebe, es gebe keine Auflösung und keinen Trost. Es sei nichts eindeutig. Genau, dass es keinen Trost gebe, sei für sie jedoch eindeutig, meinte Wilke wiederum darauf.