Katharina J Ferner
WDW-Film
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Jurydiskussion Katharina J. Ferner

Katharina J. Ferner las auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant den Text „1709,54 Kilometer“, der aus Miniaturen mit absurd kombinierten Maßeinheiten bestand. Die Jury lieferte sich im Anschluss einen wilden literaturtheoretischen Abtausch.

Mit den Worten „Mir träumt“ werden die Sequenzen aneinandergereiht. „Mir träumt: sechsunddreißig Grad vier Minuten Atemluft. Du kommst per Eisscholle über den Flugplatz geschlittert, an der Unterseite hast du Kufen befestigt“, heißt es da etwa. Dabei zeigt Ferner aber auch Humor, wenn sie von einem sich verselbstständigenden Twitter-Account schreibt, der automatisch antifeministische Postings veröffentlicht.

Mara Delius
ORF/Johannes Puch
Mara Delius

Einen wilden literaturtheoretischen Abtausch lieferten sich im Anschluss die Juroren. Mara Delius fragte in die Runde, wer ihr den Text erklären könne. Sie frage sich auch, wer dieses „wir“ sein solle und in welchem Verhältnis die Abschnitte zueinander stehen. Auch Vea Kaiser wusste keine Antwort. Philipp Tingler konnte es nicht erklären, er habe aber festgestellt, dass dieser Text eine Zeitdilletation bewirke, in dem Sinne, dass man sich fortwährend wünsche, er möge zu Ende sein.

Die dringendste Frage sei, „was soll das?“ Tingler fragte sich auch, was dieser Text dem Leser und der Leserin biete. „Muss man schreiben, nur weil man die technischen Möglichkeiten dazu hat“, fragte Tingler in den Raum.

TDDL 2021 Katharina Ferner Diskussion

Insa Wilke sah zwei Hürden

Auch für Insa Wilkes war es ein Text, der einem nicht sofort „ins Gesicht schreit, was er möchte“. Mit dem ersten Absatz komme man aber ganz gut auf eine Idee, worum es ginge. Der Text baue zwei Hürden auf. Er stelle die Behauptung auf zu träumen, womit sich die Autorin in der literarischen Tradition des Traumes bewege. Ein weiteres verwirrendes Signal seien auch die Entfernungsangaben, welche zum einen Präzision vortäuschen würden, aber gleichzeitig auch Distanz herstellen, so Wilke.

Lachende Insa Wilke
ORF/Johannes Puch
Insa Wilke

Sie fand den ersten Absatz „unglaublich stark“, weil hier quasi eine „Penthesilea-Szene“ aktualisiert werde. Das brachte sie zu der These, dass der Text versuche, das, was an gesellschaftlichen Themen und Diskursen da sei, in literarische Sprache bzw. Traumsprache zu übersetzen. Wilke versteht die Ich-Erzählerin durchaus als Figur und die verschiedenen Sequenzen als immer wieder neue Kapitel. Die Traumsprache verliere sich immer stärker und es gehe immer mehr in die Realität, so die Juryvorsitzende.

Vergleich mit Heike Geißler

Brigitte Schwens-Harrant war froh, dass der Text am Ende des Tages gelesen wurde. Sie fand, der Text habe eine interessante Möglichkeit, der Welt sprach- und erzähltechnisch zu begegnen. Es gebe kein durchgängiges Ich, das seine Geschichte erzähle, sondern es würden alle möglichen Splitter aus Politik, Gesellschaftspolitik, Klimatechnologie, Feminismus etc. auf einen zufliegen. Schwens-Harrant verglich Ferners Text mit jenem von Heike Geißler.

Geißler sei ganz anders mit politischen Situationen umgegangen, als es der Text von Ferner probiert. Ferner versuchte es verspielter, es sei keine Botschaft drinnen, wie man sich politisch zu verhalten habe, erläutert Schwens-Harrant. Das finde sie sogar gut, weil sie nicht wolle, dass der Text einem sage, was man zu tun habe. Dennoch sei sie irritiert, finde aber die verspielte Art sehr gut.

Brigitte Schwens Harrant
ORF/Johannes Puch
Brigitte Schwens-Harrant

Vea Kaiser macht sich Sorgen um die Zukunft

Wenn man gute Literatur definiere als etwas, das keine Botschaft habe und wie man sich verhalten müsse, dann mache sie sich wirklich große Sorgen um die Zukunft der Literatur, warf Vea Kaiser ein. Für sie gebe es sehr wohl viel Botschaft im Text. Es sei eine Art „Fridays for Future“-Geschichte. Die Sorgen um Umwelt- und Artenschutz seien im Text sehr präsent. Das Problem des Textes sei laut Kaiser, dass so viele verschiedene Dinge angeschnitten werden und der ständig variierende Grad der Traumhaftigkeit.

Es gebe keinen roten Faden zwischen den Sequenzen, was es dem Leser unmöglich macht sich zurechtzufinden. „Es gibt den roten Faden“, warf Michael Wiederstein daraufhin ein.

Tingler sah einen Text ohne Ambivalenzen

Philipp Tingler fand, der Text sei überhaupt nicht offen, es werde wieder eine Welt präsentiert, die keine Ambivalenzen kennt. Es sei das bloße Erwähnen und Abhaken von Kategorien: Twitter, Feminismus, Wohnungsmarkt, Wettbewerbsgesellschaft – mit den bekannten Einteilungen in gut und böse. Das sei ihm zu wenig. Ebenso merkte er an, dass die unironische Verwendung eines Satzes wie: „Wir sind begeistert und starten sofort eine wilde Polsterschlacht, dass die Federn nur so fliegen“, einen Text für diese Runde sofort disqualifizieren sollte.

Philipp Tingler
ORF/Johannes Puch
Philipp Tingler

Wer sagt, dass Text gemeinsame Perspektive braucht?

„Was soll das?“ – diese Frage sei laut Klaus Kastberger schwer zu beantworten. Er sagte, er glaube, der Text sei leicht zu verstehen, wenn man ihn vor die Geschichte der österreichischen oder deutschsprachigen Avantgarde halte. Es sei nicht ausgemacht, dass der Text zusammengehöre. Wer sagt, dass der Text eine gemeinsame Perspektive brauche, fragte Kastberger. Vielleicht sei es einfacher, dem Text nahe zu kommen, wenn man sich vorstellt, es handle sich um „Micro-Prosa“, also kurze kleine Geschichten. Das sei eine Möglichkeit, mit dem Text umzugehen, so Kastberger.

Wiederstein: Dadaistisches Traumtagebuch

Für Michael Wiederstein handelt es sich bei Ferners Text um ein dadaistisches Traumtagebuch. Es gebe einen leichten roten Faden, wenn man die einzelnen Sequenzen durchsehe, sehe man, dass ein Element des vorhergehenden Absatzes im nächsten leicht verändert auftaucht, beispielsweise die Ottakringer Brauerei wird im nächsten Absatz zum Dosenbier. In sich seien, die einzelnen „Kleinträume“ nicht sinnfrei, sie seien aber ein Stück weit absurd, erläuterte Wiederstein.

Mara Delius sah ihre Frage auch am Ende der Diskussion nicht beantwortet. Sie sei ein großer Freund von Micro-Prosa, frage sich aber trotzdem, an wem er sich abarbeite. Sie stelle sich immer noch die Frage, wer das „Wir“ sei. Kastberger sagte, auch er habe Schwierigkeiten mit dem Text, verstehe aber nicht, dass Delius und Tingler von den anderen Jury-Mitgliedern Antworten haben wollen.

Kastberger vermisste „die zweite oder dritte Idee“ im Text, der für ihn grundsätzlich zu lang war. Er fand ihn in manchen Teilen spannend, aber nicht überzeugend. Die Lust, mit der die Autorin den Text las, habe ihn sehr eingenommen, richtete sich Kastberger schlussendlich an Katharina Ferner auf.