Die Jurymeldungen gingen von „verheerend“ bis „gelungen“. Als erste meldete sich Mara Delius. Für sie war es zunächst ein sehr schwer zu ertragender Text. Auf den ersten Blick sei es eine Sozialkritik, getarnt als avantgardistisches Manifest. Es werde versucht, First World Problems pseudo-kapitalismuskritisch zu behandeln. Sie habe gestört, dass der Leser an jeder Stelle mit einer „Lastenfahrradladung von Befindlichkeiten, der selbsternannten proletarischen Prinzessin überschüttet wird“. Sie habe sich gefragt, was das solle.

Der zweite Blick war aber etwas anders. Die Größe und der Charme des Textes sei, dass er ein Empfindungsparadox der Gegenwart aufspannt und zeige, wie es sich mit der weiblichen Wahrnehmung in dieser Welt jenseits der Utopien verhält. Der Text hatte auf sie zunächst eine verheerende Wirkung.

Tingler fühlte sich bestätigt
Philipp Tingler sagte, er habe das Gefühl, Delius hätte seine Notizen gelesen. Er habe genau die gleichen anfänglichen Empfindungen gehabt. Es sei eine Art Betroffenheitslyrik, wo genau identifiziert werde, was sei gut, was sei böse. Es gebe aber Momente,in dem Text, wo das durchbrochen werde. Besonders habe ihm die Szene zwischen Constanze und der Schauspielerin gefallen, davon habe er sich mehr gewünscht. Tingler fand den Text im Gesamten aber nicht besonders gelungen.
TDDL 2021 Heike Geissler Diskussion
Wiederstein: Text zu lang
Michael Wiederstein sagte, für sein Gefühl war der Text zu lang. Für ihn habe die Länge fast eine satirische Qualität. Es sei nicht der nächste Text, der die Ü40-Bubble, der Wohlstandverwahrlosten in den besseren Vierteln Leipzigs kritisiert, sondern vielleicht der Diskurs darüber. Das würde für Wiederstein erklären, warum die abgeschmackten Bildern drin seien. Gleichzeitig gebe es gute Bilder, wie die wehrhaften Hasen, die nicht gestört werden wollen.
Vea Kaiser gefiel, wie sich der Text in die Tradition des Großstadtflaneurs einfüge. Bei einigen Szenen habe sie aufgelacht. Beispielsweise bei der neuen Wohnung mit den furchtbaren Ikea-Wohnzonen. Es gebe viel Großartiges, aber daneben die Abstraktionen, das „Wir“, das man nicht versteht, die vielen Klischees. Sie hätte sich weniger Abstraktion gewünscht.

Kastberger: Je öfter desto besser
Für Klaus Kastberger war die kleine Szene, in der sich die Schauspielerin ihre Haare so raufe, dass es genau noch passe, brillant. Es gebe Texte, die werden besser, je öfter man sie höre, dazu gehöre der Text von Geißler. Die Szene mit der Schauspielerin sei eine Reflexion auf den eigenen Text. Der Text ringe um eine Ausdrucksform, so Kastberger. Dieses Ringen gefiel ihm und er konnte es nachvollziehen. Der Text bot ihm jedoch zu wenig Antworten.
Wilke sieht politische Literatur
Juryvorsitzende Insa Wilke freute sich, dass es ein gutes Beispiel gebe, wie viel man verstehen könne, ohne es zu verstehen. „Ja, es ist ein verheerender Text, ja, er bietet wenig Antworten, ja, er ringt um seine Ausdrucksformen, das tut er alles“, so Wilke. Es sei ein Text gegen die Tödlichkeit und er sei klar in seinen Formprinzipien. Es gebe eine Erzählerin, eine Gefährtin namens Constanze, es gebe auch einen Chor, der ein Kollektiv zitiere. Es werde beschreibend eine Welt errichtet und sogleich unterlaufen, weil dieser Text um Ausdrucksformen ringe und Ausdruck einer Verzweiflung sei. Er könne nicht auf die allmächtige Erzählerin vertrauen. Laut Wilke werde hier politische Literatur geschrieben. Wie könne man der Zeit und ihren Paradoxien gerecht werden. Das sei eine enorme Leistung, so Wilke.

Tingler mangelt es an Distanz
Für Philipp Tingler vermöge es die Autorin nicht, eine Distanz aufzubauen. Man spüre ein verheerendes Verlangen, sich einzusortieren, der richtigen Kategorie anzugehören. Er sagte, er finde, der Text arbeite mit Bildern des Versteckens und des Verbergens. Die Vorhänge zur Außenwelt werden zugezogen, man sortiere sich in die Kategorie der proletarischen Prinzessin ein und man lebe. Die erzählerische Leistung sieht Tingler nicht eingelöst.
Klaus Kastberger stellte sich die Frage, ob man diesen Text insgesamt für gelungen befinden könne. Es gebe Texte, die „sind zu klug und zu reflektiert“, das sei für ihn zu abstrakt. Der Text sei nicht so politisch, wie Wilke das sehe und er sei nicht sinnlich, so Kastberger.
Brigitte Schwens-Harrant griff auf, was Kastberger gesagt hatte. Der Text setzte sehr provokant mit einem Kollektiv ein, da schrecke man hoch. Man merke sofort, dass sie Gegenrede hineinbringe, eine Zuschreibung an Kollektive, beispielsweise Frauen über 40. Die Frage sei die Form der Wirkung. Schwens-Harrant versuchte, sich dem Text nach und nach zu nähern. Ihrer Meinung nach hätte er auch eine provokante Rede zur Literatur sein können. Geißlers Text arbeite extrem stark appellativ.
Wilke sieht Ziel des Textes erreicht
Insa Wilke sprach noch den Schluss des Textes an. Dieser ende mit einem Doppelpunkt. Das sei die Vision des Textes, das unbeschriebene Blatt, wie es noch nicht im Buch steht. Es sei tatsächlich eine Rede. Mit der Ablehnung können Heike Geißler zufrieden sein. Denn der Text habe hervorgerufen, was er wollte. Nämlich nicht zu sagen, was man in der Literatur gewohnt sei und wie die Welt sei.

Wilke sagte, sie finde es gut, dass Geißler die Tödlichkeit von gesellschaftlichen Situationen zeige.
Für Wiederstein sei der Text keine Rede, er habe nicht das Gefühl, dass er sich mit der Verlorenheit von Frauen in unserer Gesellschaft auseinandersetze. Er versuche Worte zu finden für ein Ennui in Endlosschleife. Philipp Tingler wies darauf hin, dass der Text voller Konventionen sei, er erkannte gewisse Glanzlichter, aber er wünschte sich mehr ironische Aspekte.