Julia Weber Lesung
Andrea Meier
Andrea Meier

Jurydiskussion Julia Weber

Julia Weber las auf Einladung von Michael Wiederstein den Text „Ruth“. Der Text spaltete von Anfang an die Jury. Während Vea Kaiser den Mut lobte, auf Deutsch über Sex zu schreiben, nannte ihn Philipp Tingler verstaubt und wie vor 40 Jahren geschrieben.

Der Text handelt von einer erotischen Zufallsbekanntschaft zwischen zwei Frauen, die sich für eine lebensverändern gestaltet. Der Text wurde von der Jury zum Teil hitzig diskutiert. Die Ich-Erzählerin des Textes, Ruth, spricht Menschen an, ihr zu folgen. An einer Bushaltestelle trifft sie eine sichtlich vom Leben gezeichnete Frau. Ruth nimmt sie mit sich nach Hause und verführt sie. Ruth bittet danach um Geld, um Leben zu können. Abends kommt die Frau wieder und möchte bei Ruth bleiben, nachdem sie ihr Leben hinter sich gelassen hat.

TDDL 2021 Julia Weber Diskussion

Kaiser: Deutsch schlechteste Sprache für Sex

Nach der eröffnenden Lesung ergriff zuerst Vea Kaiser das Wort. Sie sagte, sie habe den größten Respekt für die junge Autorin, dass sie über Sex schreibe. Julia Weber habe eine „wunderbare, ästhetische“ Art. In diesem Text habe sie aber das Problem, dass das Tempo zu langsam sei, dadurch ergeben sich viele schiefe Details und Widersprüche. Es gebe auch eine große Dichotomie zwischen den beiden Hauptpersonen. Ruth sei schön, die Geliebte werde ein wenig der Lächerlichkeit preisgegeben. Dass tue dem Text nicht gut.

Vea Kaiser
ORF/Johannes Puch
Vea Kaiser

Delius: „Gute Sexszene“

Mara Delius fragt sich, was eine gute Sexszene in der Literatur sei. Sie stimmte Kaiser zu, dass im Text eine gute Sexszene dargelegt wird. Sie sei literarisch überzeugend. Der Text erzähle eine Transformation, die nicht ohne den Akt der Befreiung auskomme.

Insa Wilke fand es schön, dass Weber mit dem Satz „Was haben wir gerade gehört beginnt“: Sie habe einen Text gehört, der ihr die Hand reiche, welche sie auch annehme. Der Text habe etwas Schwebendes, er sei provozierend, eine Engelsgeschichte einer Frau. Es sei ein Engel, der sich aber prostituiere. Man könnte denken, die Geschichte sei kitschig, sei sie aber nicht, erläuterte Wilke. Es sei besonders, dass der Text versuche „vom Glänzen zu erzählen“. Gerade die Widersprüche hätten Wilke beeindruckt.

Insa Wilke
ORF/Johannes Puch
Insa Wilke

Tingler sieht Text „verstaubt“

Tingler meinte, die einzige Provokation des Textes sei, dass er so unglaublich verstaubt sei. Es sei ironisch, dass man mit einem Text beginne, der auch vor 40 Jahren vorgetragen hätte werden können. Tingler sagte, er habe das Gefühl, er trockne feuchte Hände in einem feuchten Handtuch ab. Der Text habe gute Stellen, sei aber „zutiefst durchschnittlich“.

Brigitte Schwens-Harrant sah ihr Urteil nahe bei Tingler. Es sei eine Bekehrungsgeschichte anders herum, in dieser Bekehrung liege ein Problem der Geschichte. Die Zweiteilung – zuerst sei man bei Ruth, dann sei man bei der anderen Frau, die ihr Gesicht in die Torte drücke. Sie brauche die ganzen Gegensätze gar nicht. Schwens-Harrant fand es gut, dass Körperlichkeiten in der Geschichte transportiert werden. Es bleiben aber viele Fragen.

Brigitte Schwens Harrant
ORF/Johannes Puch
Brigitte Schwens-Harrant

Begeistertung bei Kastberger

Für Klaus Kastberger habe der Lesereigen lustig begonnen. Der Text habe sich in ein risikoreiches Terrain hinein gewagt. Kastberger zeigte sich begeistert vom Text. Es gehe um den zentralen Moment der Bekehrung. Die Verwirrungen in der Jury sprechen für Kastberger für den Text. Alle Abschweifungen seien letztlich in einem einzigen Punkt versammelt, den man sich mehr widmen sollte, dem Moment der Bekehrung, der das Leben der Frau radikal verändert. Die Bilder würden alle stimmen, so Kastberger.

Für Michael Wiederstein hatte der Text mit Sex zu tun, sei aber nicht das zentrale Moment. Die Körperlichkeit mache den Text aus. „Es ist eine Lüge, dass wir in perfekten Körpern leben“, so Wiederstein. Der Sex zelebriere die Imperfektion von Körpern. Für ihn sei es keine Bekehrung, sondern eine Befreiung. Die namenlose Frau gegenüber Ruth habe keine Flecken, sie habe keine Stimme, niemand beachte sie. Menschen seien imperfekt, so wie im Text geschildert.

Kaiser und Tingler stimmen überein

Philip Tingler antwortete darauf, „dass wir oft darüber reden, wie Menschen sind“. Man müsse grundlegende Fragen an den Text stellen. Es tue ihm leid, man erlebe in Webers Text „zwei hermetische Figuren, die kollidieren“. Ihm sei nicht plausibel, warum der totale Wechsel geschieht. „Weil sie sich verknallen“, war ein Zwischenruf von Klaus Kastberger. Für Tingler gab es keine Ambivalenz im Text.

Vea Kaiser gab Tingler recht. Sie fragte sich, warum Ruth so von sich eingenommen sei und die namenlose Frau alles stehen und liegen lasse. Vieles passt für sie nicht hinein. Sie hätte die Frage gerne beantwortet bekommen.

Wilke sagte, sie könne die Frage leicht beantworten. Wenn man mit der Erwartung herangeht, dass es eine realistische Geschichte sei, dann komme man nicht weit. Es sei eine Heiligengeschichte. Der Text lebe von Wünschen, man könne keine Plausibilität von ihm erwarten.

Philipp Tingler
ORF/Johannes Puch
Philipp Tingler

Es gebe keine falschen Erwartungen an Texte, warf Tingler ein. Es gebe Texte, die Transzendenz einfangen, diesen Anspruch stelle er an alle Texte. Die Handlungsebene sei ihm egal, der Text sei einfach nicht gut gemacht.

Für Schwens-Harrant lag in der Typologisierung ein Problem. Es gebe Signale, dass man auf Begriffe wie „Engel“ oder „Befreiung“ komme.
Mara Delius sprach noch einmal die Transformation an. Beide würden sich entwickeln. Die eine lade sich vom Glanz auf, die andere verliere einen Teil ihres Glanzes. Es sei ein interessantes Motiv, wie Frauen miteinander umgehen und einander begegnen können.

„Ruth ist auch nicht frei“

Wiederstein sah eine schöne Ambivalenz. Die namenlose Frau, erhoffe sich die Freiheit von Ruth. Ruth sei aber auch nicht frei, so Wiederstein. Sie redet sich ein, wenn sie ein Teil ihres Glanzes verliere, könne sie kein Geld mehr mit ihrem Körper verdienen. Ruth käme aus dem hebräischen und bedeute „Erquickung“ oder „Brunnen“. Wenn sich Leute aus dem Brunnen erquicken, „dann geht dem Brunnen etwas flöten“, so Wiederstein.

Klaus Kastberger
ORF/Johannes Puch
Klaus Kastberger

Kastberger lobt Qualität des Textes

Was Klaus Kastberger gefiel, war der unsicher Bereich, wer Ruth sei. Der Text setzte ansatzlos mit einer Erscheinung ein, die einen verunsichert. Der Glanz erinnere ihn nicht an Heilige, sondern an die 20er Jahre, die Beleuchtung des weiblichen Körpers. Der Text entwickle eine Vielschichtigkeit, Ruth bleibe im Raum, er werde sie nicht vergessen. Das habe mit der Qualität des Textes zu tun.

Für Schwens-Harrant gebe es jedoch viele Dinge, die nicht Vielschichtig sind, wie der Name Sauber. Es werde vieles enger gemacht, als es ist, das sei schade.
Wilke fand die Referenzen zu anderen künstlerischen Formen sehr wichtig. Ingeborg Bachmann werde sehr deutlich angespielt. Die Referenzen werden „angeleuchtet“, Weber mache jedoch etwas Eigenes daraus. Der Text gehöre für Wilke in die heutige Zeit.