Jury bei der Eröffnung
ORF/Johannes Puch
ORF/Johannes Puch

Erster Tag mit Lust an Diskussionen

Die Lesungen der 45. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt haben am Donnerstag begonnen. Die ersten Texte sorgten gleich für angeregte und teils heftige Diskussionen der Jury, die offenbar froh war, wieder von Angesicht zu Angesicht kritisieren zu können. Ein erster Favorit könnte Necati Öziri sein.

Pandemiebedingt wurden alle Lesungen vorab aufgezeichnet, die Autorinnen und Autoren sind aber bei der live Jurydiskussion zugeschaltet.

45. TddL: Ein Hoffnungsträger zum Auftakt

Von großer Diskussionsfreude unter den Juroren geprägt ist am Mittwoch der erste Lesetag bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt über die Bühne gegangen. Der Text des deutschen Autors Necati Öziri stach positiv hervor.

Die erste Autorin 2021, Julia Weber, schreibt und lebt in Zürich. Sie wurde von Michael Wiederstein eingeladen und las den Text „Ruth“. Ruth ist eine Ich-Erzählerin. Sie spricht Menschen an und animiert sie, mit ihr zu kommen. An einer Bushaltestelle trifft sie eine Frau, nimmt sie mit sich nach Hause und verführt sie. Sie bittet danach um Geld, offenbar ist Ruth ein Prostituierte. Es ist die Geschichte einer radikalen Lebensumstellung, denn die Frau, die zunächst nur zögernd mit Ruth mitgeht, lässt ihr altes Leben hinter sich und steht abends vor Ruths Tür, um zu bleiben.

Lob und heftiger Tadel von Jury

Vea Kaiser lobte den Mut der jungen Autorin, über Sex zu schreiben, denn es gebe kaum eine schlechtere Sprache dafür, als Deutsch. Insa Wilke nannte den Text eine Provokation, eine Engelsgeschichte, es handle von einem Engel, der sich prostituiere. Es gebe Widersprüche, die sie beeindrucken. Philipp Tingler sagte, die einzige Provokation sei, dass der Text so verstaubt sei, dass er genauso gut 40 Jahre alt sein könnte- mehr dazu in Jurydiskussion Julia Weber.

Julia Weber Lesung
Andrea Meier
Julia Weber

Auch heftige Debatten um zweiten Text

Nach ihr war die Deutsche Heike Geißler an der Reihe. Insa Wilke brachte den Text „Die Woche“ nach Klagenfurt. Mara Delius brauchte zwei Anläufe, um die unterschiedlichen Facetten des Textes interpretieren zu können. Philipp Tingler beurteilte einige Bilder im Text als sehr gut, kritisierte die Erzählstimme, und den Text insgesamt als „nicht sehr gelungen“. Michael Wiederstein fand den Text viel zu lange, auch wenn er dessen satirische Qualität würdigte. Auch Vea Kaiser war zwiegespalten: der Text habe zwar einiges Großartiges, der Text entlarve sich aber durch einige Sätze selbst.

Vea Kaiser und Philipp Tingler während der Lesung von Heike Geißler
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Jury während Geißlers Lesung

Klaus Kastberger sagte, je öfter er den Text lese, desto besser gefalle er ihm. Er finde jene Stellen gut, wo der Text selbstreflexiv werde. Er ringe um eine Ausdrucksform, biete allerdings zu wenige Antworten – mehr dazu in Jurydiskussion Heike Geißler.

Heike Geißler Lesung
ZDF
Heike Geißler

Todkranker Sohn stellt sich den Vater vor

Öziri Necati war als dritter Autor des Vormittags an der Reihe. Der Autor und Theatermacher lebt in Berlin und wurde ebenfalls von Insa Wilke eingeladen. Er las den Text „Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben“.

Öziri Necati Lesung
ORF
Lesung Necati Öziri

Ein Sohn schreibt als Ich-Erzähler seinem unbekannten Vater Murat, den er nur aus Erzählungen der Schwester kennt. Er hatte die Mutter verlassen, als sie mit dem Sohn schwanger war. Der Vater hatte eine Familie in Deutschland, ging zurück in die Türkei, wurde dort verhaftet und inhaftiert, weil er mehrere Menschen getötet haben soll. Der Sohn stellt sich verschiedene Szenarien vor, dass der Vater wieder geheiratet und eine neue Familie hat, oder dass er tot ist. Dabei ist es der Sohn, der in einem Krankenhaus liegt und an Leberversagen stirbt. Sein Sterben brachte Mutter und Tochter wieder zusammen, die an seinem Bett sitzen während er über den unbekannten Vater sinniert, von dem nur ein Foto geblieben war.

Vea Kaiser zeigte sich begeistert, der Text sei keine Anklage, sondern auch der Versuch, sich den Vater vorzustellen. Aber auch die Verzweiflung sei großartig dargestellt. Michael Wiederstein sagte, man habe es mit einer Verfluchung zu tun und widersprach damit Vea Kaiser. Man merke die Wucht des Textes wie ein Hammerwerk – mehr dazu in Jurydiskussion Necati Öziri. Öziri kann sich erste Hoffnungen machen, als Favorit gehandelt zu werden.

Erste Österreicherin Magda Woitzuck

Nach einer kurzen Mittagspause war mit Magda Woitzuck die erste österreichische Autorin an der Reihe. Sie folgte der Einladung von Neo-Jurorin Vea Kaiser und las den Text „Die andere Frau“. Protagonistin Judith entdeckt die Leiche ihrer Nachbarin im Wald, erzählt ihrem Mann aber nichts davon und übernimmt langsam das Leben der toten Frau.

Die Jury zeigte sich im Anschluss äußerst streitlustig. Insa Wilke äußerte vor allem Kritik an der unsteten Gewichtung des Textes, die aus den wechselnden Erzählperspektiven rühre. Ihr habe das Zentrum gefehlt. Auch Kastberger zeigte sich wenig überzeugt von „einem der formalkonventionellsten Texte bisher“ und nannte den Text „überbuchstabiert“ und zugleich „schlampig gearbeitet“.

Erinnerungen an David Lynch

In dieselbe Kerbe schlugen Brigitte Schwens-Harrant und Michael Wiederstein, der den Text „übererzählt“ fand. „Es bleibt keine intellektuelle Manövriermasse“, befand der Juror. Mara Delius, die den ruhigen Ton des Textes und die „David-Lynch-haften Szenen“ lobte und Philipp Tingler, der den Text „grandios“ fand und die Einheit von äußerer und innerer Handlung hervor strich, sprangen Vea Kaiser bei, die den Text eingeladen hatte. Für sie war es ein „Text über das Schweigen der Frau“, ihr hätten vor allem die Bilder von Tod und Vergänglichkeit imponiert. Vea Kaiser legte sich auch mit Klaus Kastberger an und belehrte ihn, der davon nicht sehr amüsiert war – mehr dazu in Jurydiskussion Magda Woitzuck.

Magda Woitzuck Lesung
WDW-Film
Magda Woitzuck

Absurd kombinierte Maßeinheiten

Die letzte Autorin des ersten Lesetages war die Österreicherin Katharina J. Ferner. Brigitte Schwens-Harrant holte sie zu den 45. TddL. Sie las den Text „1709,54 Kilometer“. In mehreren Miniaturen, die jeweils mit den Worten „Mir träumt“ und absurd kombinierten Maßeinheiten wie „hundertachtzig Liter Artenschutz“ beginnen, werden (alb-)traumhafte Szenen geschildert, die nicht selten Motive wie Eis und Wasser zum Thema haben. „Mir träumt: sechsunddreißig Grad vier Minuten Atemluft. Du kommst per Eisscholle über den Flugplatz geschlittert, an der Unterseite hast du Kufen befestigt“, heißt es da etwa. Dabei zeigt Ferner aber auch Humor, wenn sie von einem sich verselbstständigenden Twitter-Account schreibt, der automatisch antifeministische Postings veröffentlicht.

Literaturtheoretischer Abtausch

Einen wilden literaturtheoretischen Abtausch lieferten sich im Anschluss die Juroren. Während Philipp Tingler die „mangelnde Kohärenz“ des Textes kritisierte und sich „fortwährend wünschte, er möge zu Ende sein“ und auch Mara Delius laut danach fragte, worum es in diesem Text überhaupt gehe, konterte Kastberger mit dem Verweis auf die österreichische Avantgarde. Hier handle es sich um „Mikroprosa“, auch wenn er „die zweite und dritte Idee vermisst“ habe.

Der Schweizer Michael Wiederstein verstand den Text als „dadaistisches Traumtagebuch“ und konstatierte, dass man ihn mit den bisher im Laufe des Tages angewandten literaturtheoretischen Mitteln nicht kritisieren könne. Auf der inhaltlichen Ebene fragte sich Wilke, „ob der Text nicht Gefahr läuft, unsere Gegenwart als Idylle zu erzählen“, während Schwens-Harrant, die Ferner eingeladen hat, gerade die im Text behandelten „Splitter aktueller gesellschaftlicher Themen“ lobte – mehr dazu in Jurydiskussion Katharina J. Ferner.

Katharina J Ferner Lesung
WDW-Film
Lesung Katharina J. Ferner

Bitte um Erklärung

Mara Delius bat ihre Jury-Kollegen um Erklärungshilfe. Mehrere Juroren zeigten sich ebenso ratlos. Philipp Tingler fragte sich: „Muss man schreiben, nur weil man die technischen Möglichkeiten dazu hat?“ Vorsitzende Insa Wilke nahm mehrere verwirrende Signale war. Der erste Absatz brachte sie zu der These, dass das, was an gesellschaftlichen Themen da sei, in eine literarische Sprach, eine Traumsprache, übersetzt werde. Die Traumsprache verliere sich aber nach und nach immer mehr im Text. Er laufe die Gefahr, Gegenwart als Idylle darzustellen.

Brigitte Schwens-Harrant fand es „eine interessante Möglichkeit, der Welt, wie sie uns umgibt, sprachlich und erzähltechnisch zu begegnen“. Klimatechnologie, Feminismus etc. würden eine Einordnung oft schwierig machen. Verspielt liefere der Text die Möglichkeit Handlungsspielräume auszuloten. Schwens-Harrant finde grundsätzlich Gefallen daran, unterstrich sie. Träume seien eine Form der Bearbeitung der Zumutungen. Sie schätze auch die Offenheit des Textes.

Alle Infos online zu finden

Wie gewohnt sind die Texte (ab der jeweils laufenden Lesung), Jurydiskussionen und die Rede der Literatur nachzulesen. Alle Videos laufen live auf 3sat, der Bachmannpreis-Homepage und der tvthek.ORF.at. Im Internet stehen die Videos auch on demand zur Verfügung. Fotos für Pressevertreter gibt es unter presse.ORF.at.