Magda Woitzuck Lesung
WDW-Film
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TEXT Magda Woitzuck (A)

Magda Woitzuck liest auf Einladung von Vea Kaiser den Text „Die andere Frau“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Ihr Mann ist ein langsamer Esser. Er isst, als wäre es eine Aufgabe, die er zu erledigen hat, links hält er die Gabel, rechts das Messer, er kaut gründlich und lange. Er macht den Eindruck, er würde beim Essen intensiv über etwas nachdenken, aber sie sind beinahe dreißig Jahre verheiratet und Judith weiß, dass es nicht so ist. Mit der Gabel zerdrückt Stefan die letzten Kartoffeln auf seinem Teller zu Brei und salzt nach.

Judith hat den Augenblick verpasst, zu erzählen, was passiert ist. Sie ahnt, dass sie ihn nicht verpasst, sondern absichtlich verstreichen hat lassen, was nicht geschehen wäre, hätte Stefan etwas bemerkt. Hätte er gefragt: „Ist etwas mit dir?“, hätte sie sagen können: „Hör zu Stefan. Ich war mit dem Hund im Wald. Gerade als ich oben beim Wegstock war, hat er sich losgerissen und ist davongelaufen. Ich hab fast eine Stunde nach ihm gesucht, bis ganz nach unten, auf die andere Seite des Hügels musste ich. Hast du gewusst, dass dort ein Bach ist? Dort jedenfalls hab ich ihn gefunden. Er hat sich nicht bewegt, ist einfach da gestanden und hat gewinselt. Und dieses Winseln, das war ein Geräusch, ich kann es dir gar nicht beschreiben. Ich hab verstanden, dass da etwas ist. Aber ich hab sie nicht gesehen, weil ihr Gewand die gleiche Farbe hat wie das Laub, auf dem sie liegt. Als würde sie einen Schneeengel machen wollen. Nur ihr Gesicht ist ganz weiß. Ich hab sofort gewusst, dass sie tot ist. Nicht lange, aber lange genug, dass mir gar nicht eingefallen ist, an eine Reanimation zu denken, immerhin bin ich Krankenschwester. Ich glaube, sie hat es kommen gespürt und sich deswegen so hingelegt. Einen Herzinfarkt vielleicht, oder einen Hirnschlag, eine Lungenembolie. Es gibt so vieles. Darüber habe ich nachgedacht, das weiß ich noch. Aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich heimgekommen bin, das fehlt mir, ich weiß nur, dass ich kurz vor zwölf wieder zu Hause war. Der Tag ist einfach so vergangen. Jetzt wirst du dich fragen, ob ich die Polizei angerufen hab, weil dass ich dich nicht angerufen hab, das weißt du schon, sonst würde ich dir das alles nicht erzählen, und ich kann dir nur sagen: Nein, ich hab die Polizei nicht gerufen und ja, © Magda Woitzuck, 2021 !1 Verena Bruckner liegt immer noch im Wald und nein, ich kann dir nicht sagen, warum, also bitte frag mich nicht.“

All diese Sätze stecken in Judiths Schädel. Sie hat einmal gelesen, dass der Schädelknochen einer Frau im Schnitt sieben Millimeter dick ist, der eines Mannes aber nur sechseinhalb. Vielleicht, weil Frauen öfter Gefahr laufen, erschlagen zu werden. Oder weil in ihren Köpfen so viele Gedanken passieren, die nicht hinausdürfen, die eingesperrt bleiben müssen, weil sonst alles zusammenbrechen würde, denkt Judith, Ehen, Familien, die Welt, all das kann nur funktionieren, wenn jemand schweigt. Stefan legt das Besteck quer über den Teller und schiebt ihn seufzend von sich. „Ich geh mit dem Hund, bevor die Nachrichten anfangen“, sagt er. „Mach das“, antwortet Judith.

Während Stefan mit dem Hund draußen ist, spült sie das Geschirr. Wenn Judith den Kopf hebt, sieht sie ihr verschwommenes Abbild im Fenster über der Spüle, sie sieht durch sich hindurch, in die Nacht auf der anderen Seite des Glases. Ihr Haus steht auf einer Anhöhe, bei Tag hat man einen weiten Blick über das Land, aber Judith braucht kein Licht, um den von Wald bedeckten Hügel zu sehen, die Straße an seinem Fuß und die Felder, die sich rechts davon erstrecken. Zwischen Wald und Straße steht ein längliches, einstöckiges Haus, der letzte Rest eines Aussiedlerhofes, dessen Stall und Scheune schon lange nicht mehr sind. Ein Schotterweg führt von der Straße zu dem Haus, verschwindet dahinter im Wald. Der Garten ist verwildert, wo keine Büsche und Bäume wachsen, steht kniehoch die Wiese. Vor dem Haus ist ein Fliederbusch, an einem seiner Äste hängt etwas, das aufblitzt, wenn Sonnenlicht darauf fällt. Das Blitzen hat Judith schon oft innehalten und aus dem Fenster sehen lassen, zu dem Haus, das so alleine dort steht, wie Verena Bruckner in ihm lebt. Man könnte es für unbewohnt halten, wären da nicht die zwei Mülltonnen am verrosteten Gartenzaun und der elegante, schwarze Mercedes, ein Modell aus den frühen 1980er Jahren, das genauso wenig in die Gegend passt, wie seine Besitzerin. An allen Abenden vor diesem hat Judith beim Abwaschen Licht hinter den Fenstern gesehen.