Julia Weber Lesung
Andrea Meier
Andrea Meier

TEXT Julia Weber (CH)

Julia Weber liest auf Einladung von Michael Wiederstein den Text „Ruth“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Wenn ich hinausgehe und die Türe hinter mir schliesse, wenn ich durch das dunkle, enge Treppenhaus, die Stufen hinuntersteige, wenn ich dann auf die Straße trete, glänze ich bis in die Menschen hinein.
Bist du aus Milch?, hat einer mich gefragt. Bist du wirklich, oder habe ich mir dich gewünscht? Erfunden?
Ich bin wirklich, sage ich, ich bin Ruth, und wenn ich bei den Menschen bin, dann wird es Sommer in ihnen.
Und zu der Frau, die sich trägt, als wäre sie eine Tasche voller schmutziger Wäsche auf dem Weg zur Wäscherei, sage ich: Komm zu mir.
Komm mit, sage ich zu ihr.
Sie erschrickt und schaut mich an, ich weiß, sie würde gerne.
Komm mit, sage ich zu ihr, und sie schaut mir ins Gesicht, schaut meine rosa Lippen – an – und schaut – weg.
Komm doch mit, sage ich zu einem Mann, und auch er erschrickt, fasst sich an den Finger, dreht den Ehering.
Lass mal, sagt er und geht weg von mir.
Dreht sich um. Schaut mich an.
Ich, die ich im limettengrünen Kleid dastehe, an der Ecke, im Schatten der Birke, und ihm nachsehe. Ich, die ich alle Finger bewege wie Insektenbeinchen, wie die Aufregung des Frühlings, und eines meiner hellen Beine leicht anhebe und über das andere lege, an die Wand gelehnt. Und ich schaue in die Birke hinauf, weit nach oben, mein Hals muss schön aussehen dabei, ein Bogen der Sinnlichkeit ist der Hals. Manchmal singe ich ein Lied. Wenn ich den Text nicht kenne, summe ich, aber weil Summen nicht Singen ist, verstumme ich. Meistens glänze ich. Meistens wissen die Menschen wenig von diesem Glanz. Meistens sehen sie mich an und dann fragen sie sich, wie es möglich ist, dass es so etwas wie mich gibt.
Und wenn ich jemanden finde. Eine Frau, zum Beispiel, sie steht an der Bushaltestelle, und der Riemen der Tasche, die sie trägt, drückt ihr eine Rille in die Schulter. Sie steht an der Haltestelle und bedauert sich selbst. In ihrem Blick ein ausgebleichtes Sofakissen, darauf ihr Gesicht, neben dem Gesicht ihr trockenes Haar, das blaue, zuckende Licht des Fernsehers. Im Fernseher die Menschen mit glatter Haut und Pailletten am Jackett. Und sie lachen so groß, die Menschen, viel zu groß lachen sie, reißen die Münder auf, sage ich zu der Frau, und dann sage ich, komm mit mir mit. Es zieht etwas an dir, sage ich. Es ist, als wärst du im Kopf damit beschäftigt, Hühner zu verladen, du packst in Gedanken die Hühner am Hals, eines mit der rechten und eines mit der linken Hand. Und du stopfst sie in Kisten, ihr Krächzen und die Krallen, die am Holz der Kisten kratzen, Gefieder fliegt und bleibt in deinem Haar zurück, wenn die Hühner in den Kisten weggefahren werden und verarbeitet zu Schnitzel und Gehacktem, Geschnetzeltem, Pasteten. Und du fragst dich schon lange, ob nicht in Wahrheit du diese Hühner bist, die verladen werden, und ob nicht du von den Menschen um dich in Kisten gepackt wirst. Das sage ich zu der Frau mit der Rille in der Schulter, die die Tasche nicht abstellt, die nicht davongeht, die krumm dasteht in ihrem Körper, den sie bedient, die sich kein Taxi zum Flughafen nimmt.
Der Bus kommt, ich stehe neben ihr, und als der Bus weiterfährt, und sie hat sich nicht bewegt, weil sie keinen Schritt mehr gehen kann in ihrem Leben, den sie bereits gestern getan, dann weiß ich, sie kommt mit mir mit.
Ruth, sage ich, heiße ich.
Ruth also, sagt sie.
Du bist schwer, sage ich und nehme ihre Hand.
Und ich gehe mit ihr und ihrer Hand in meiner die Straße entlang, die Tasche, die sie stehen lässt. Jemand ruft uns hinterher.
Die Tasche, ruft jemand, und dann kommt der Wind.
Die Tasche, ruft jemand. Sie haben Ihre Tasche vergessen.
In der Tasche ist mein Schlüssel, sagt sie. Der Schlüssel zu meiner Wohnungstür.
In der Tasche ist auch die Tasse, die mir meine Mutter geschenkt hat. Sie bringt mir aus jedem Urlaub eine Tasse mit. Meine Mutter war in Polen, sagt sie. In Warschau, um genau zu sein. Auf der Tasse steht Warschau geschrieben.
Dann ein Blitzen über uns. Ein Grollen im Himmel. Tropfen groß wie Heidelbeeren. Tausend Heidelbeeren, dunkle Punkte auf dem Asphalt.
Wir treten ein in das enge, dunkle Treppenhaus, und ich steige vor ihr die singenden Stufen hoch, gehe Stockwerk um Stockwerk hinauf. Die Nachbarin schaut aus der Tür, senfgelb leuchtet ihr Kleid im Türspalt. Die Hände am Türrahmen, spielen die Finger ein sehnsüchtiges Spiel.
Ergraut und nickend, hallo Ruth, sagt sie.
Hallo, sage ich.
Ich lächle sie an, und sie lächelt mit vielen müden Gesichtern zurück. Draußen das Sekundenblitzlicht. Sichtbar im kleinen Flurfenster. Dann ein Donner. Die Frau erschrickt. Hinter mir das Atmen der anderen. Und die Nachbarin verschwindet.
Tschüss Ruth, sagt sie noch.
Tschüss, sage ich.
Alles Gute, Ruth.
Als letztes verschwinden die sehnsüchtigen Finger.
Wir gehen hinauf. Die Frau tritt hinter mir in den Raum, schließt die Tür. An den geöffneten Fenstern bewegen sich die weißen Vorhänge im Wind. Ich gehe durch das Zimmer, schließe die Fenster, drehe mich um, und sie steht nur noch mit einem Bein in der Hose, das andere in der Luft, so steht sie da, und dann wankt sie und fällt um.