Anna Prizkau Lesung
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TEXT Anna Prizkau (D)

Anna Prizkau liest auf Einladung von Philipp Tingler den Text „Frauen im Sanatorium“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Als ich ein Kind war, malte mir meine Mutter mit ihren Fingern Kreise auf die Wangen. Sie waren sanft und unsichtbar. Ich liebte ihre langen Nägel, immer hellrot lackiert, und ihre Hände, die meistens kalt waren. Das letzte Mal, als sie die Kreise machte, ging ich noch zur Schule, vielleicht schon in die achte Klasse, vielleicht auch in die siebte.
Ich dachte jetzt an diesen Tag und fuhr mit meinem Zeigefinger, meinem Mittelfinger über die linke Wange, über die Lippen, dann über die andere Wange; als würde ich mir ein Lächeln aufs Gesicht aufmalen.
Die Vögel standen im graubraunen See des Kurparks und drehten ihre Köpfe; nach links, nach rechts, nach links. Doch da war niemand. Da waren rote Bäume, es war Herbst.
Pepik streckte seinen Hals, und ich erzählte ihm von meiner Mutter. Das machte ich jeden Tag. Seit einer Woche. Seitdem ich die Tabletten nahm, die mir am Morgen, jeden Morgen, die magere und große Krankenschwester mit den korallenroten, runden Lippen brachte. Seitdem war alles wie in Watte und ich redete mit einem Vogel. Er hatte blasse Federn, sie waren beinah weiß; nicht rosa, wie die Federn der anderen Vögel, die im Kurpark am See mit Pepik lebten; nicht pink, wie die Federn der Flamingos in der zu lauten Werbung für Saturn. Oder war es die Werbung für Sephora? Ich wusste es nicht mehr.
Für was war denn die Werbung?, sagte ich.
Doch der Flamingo schwieg.
Ich nannte ihn nur deshalb Pepik, weil es der Name meines ersten Vogels war: ein Nymphensittich, hell, nicht grau, wie sie oft sind, mit roten Kreisen auf den Wangen. Mein Vater gab ihn Freunden, als wir nach Deutschland ziehen mussten. Mein Vater wollte nicht nach Deutschland ziehen. Ich auch nicht. Doch meine Mutter sagte immer wieder: „Das ist unsere Zukunft.“ Das war vor zwanzig Jahren. In Deutschland machte ich dann das, was meine Eltern wollten: Die Schule – gut. Das Studium – noch besser als die Schule. Danach die Arbeit – besessen und am besten. Mein Vater sagte: „Du hast jetzt eine Zukunft.“ Da konnte ich ihn aber nicht mehr ausstehen. Da hatte er schon seine eigene Zukunft. Sie hieß Tatjana. Tatjana gab in der Abendschule Unterricht. Mein Vater hatte sie im ersten Deutschkurs kennengelernt, den er mit meiner Mutter machte.
Pepik hatte den Hals verdreht und zupfte jetzt an seinen Federn. Ich richtete meinen Schal, ein heißer Schmerz zog durch die Hand, obwohl die Sache jetzt zwei Wochen her war. Obwohl die blauen Flecken auf meinem Körper nicht mehr blau waren, sie waren gelb.
Pepik, das war mein Vater!, sagte ich.
Der Vogel schwieg noch immer. Ich holte meine Zigaretten aus der Jackentasche, danach das Telefon. Es summte jetzt. Das Wort Schwimmbad leuchtete auf dem Display, eine Erinnerung. Ich stand so schnell auf, wie ich konnte – sehr langsam, das lag an den Tabletten – und ging den breiten Kurparkweg herunter. Ich musste mich beeilen, nochmal ins Zimmer und mich umziehen. Ich mochte es, das schmale Bett, den Kleiderschrank, den Schreibtisch. Die Möbel waren mit rosa-gelbem Holz furniert, nur nicht die beiden Stühle. Es waren solche, wie sie in Wartezimmern stehen. Die Polster waren grau und ihre Beine aus Metall, sie hatten ein regelmäßiges und schönes Muster aus dunkelroten Flecken, es war Rost. Ich zog meinen Badeanzug an, danach den Bademantel, hörte ein Klopfen an der Tür. Es war gereizt, und es war Elif. Natürlich Elif. Vielleicht hatte sie schon am ersten Tag, vielleicht am zweiten beschlossen, dass wir Freundinnen werden. Sie war so alt wie ich. Und so wie ich konnte sie auch nicht weinen. Sie sagte jeden Tag sechs, sieben Mal den gleichen Satz: „Jeder kommt zurück.“ Ich wusste nicht, was Elif meinte. Ich wusste nicht, ob sie den Satz sich selbst, mir oder dem Gebäude sagte, in dem wir wohnen mussten. Das Haus Nr. 5 war riesig, rechteckig und grau von Innen, von Außen war es rot.
„Kommst du?“, schrie Elif.
Ich öffnete die Tür.
„Warst du wieder bei deinen Vögeln?“ Sie redete so schnell wie immer, wartete nicht auf eine Antwort, auch das wie immer. „Schau mal, mein neuer Badeanzug! Kam heute!“ Sie öffnete ihren Bademantel, senkte ihren Kopf, und ihre Augen zeigten jetzt auf ihre Brüste. „Macht er mich flach?“
Ein tiefer, runder Ausschnitt, rotes Polyamid. Sie sah perfekt aus. Ich sagte: „Nein.“
„Gut, ich wusste es! Los, lass uns Herzen brechen.“ Sie lachte laut und tief, wie Katzen schreien, nahm meine Hand und zog mich in den Flur.
Elif war hier, weil ihr Verlobter nicht mehr da war. Bashir war an einem Wintertag verschwunden, an dem Elif endlich ihr Hochzeitskleid gefunden hatte. Es war polarweiß mit einem schmalen Rock und einem Gürtel aus Satin. Elif hatte ein Bild von sich im Kleid als Startbild auf ihrem iPhone. Sie sprach jeden Tag vom Kleid, aber an keinem Tag von Bashir. Elif konnte so gut erzählen, als ob sie aus einem Buch vorlas. Ihre Geschichten waren erfunden, traurig, schön. Von ihrem Verlobten handelten sie nie. Sie sagte seinen Namen nur einmal in einer Gruppenstunde. Sie sagte nicht, warum er weg war. Ich fragte nicht danach. Ich wollte es nicht wissen. Ich wollte nichts. Nur an den Vormittagen zu meinen Vögeln gehen, weil da kein Mensch im Kurpark war.
Im Klinikschwimmbad roch es nicht nach Schwimmbad. Es roch nach Medizin und nicht nach Chlor. Die Physiotherapeutin, eine freundliche, kleine Frau mit kurzen Locken in Bordeaux gefärbt, begrüßte alle wie Verwandte. Die meisten waren alt. Nur Elif, Thomas, ich waren es nicht. Ich machte die Bewegungen der Therapeutin falsch und langsam nach.