Timon Karl Kaleyta Lesung
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TEXT Timon Karl Kaleyta (D)

Timon Karl Kaleyta liest auf Einladung von Michael Wiederstein den Text „Mein Freund am See“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Das Starten des Motors bereitet Julian an diesem Morgen ein wenig mehr Mühe als sonst. Ich sehe ihm ganz aufmerksam dabei zu. Eigentlich hätte er dafür bloß den Schlüssel umzudrehen brauchen, aber weil ihm vor ein paar Tagen ein Fischotter irgendein Kabel durchgebissen hat, funktioniert die Zündung nicht mehr. Er steht nun am Heck seines kleinen Sportbootes und versucht, den Außenbordmotor durch ruckartiges Ziehen am Seilzug in Gang zu setzen. Das Boot schwankt unter seinen schlanken nackten Füßen, die oben drauf so ein bisschen gebräunt sind. Aber er steht sicher. Es sind Füße, die sehr gut zu meinem Freund Julian passen.

Das ist wirklich ein herrliches Boot, denke ich jedes Mal, auch wenn es nicht besonders groß ist und überhaupt nicht teuer war. Also, es ist alles andere als protzig, das ist wichtig, denn Motorboote stellt man sich ja immer unheimlich obszön vor, plump irgendwie, was zum Angeben. Aber so ein Boot würde gar nicht zum Julian passen. Sein Boot, das ist so ein altes, aus den 60er- oder 70er-Jahren, ein DDR-Fabrikat, ganz flach, zurückgenommen und wirklich sehr anmutig in seiner Form. Der Rumpf besteht aus irgendeinem längst verbotenen, giftigen Kunststoff, dafür ist das Deck aus einem schönen Mahagoni-Holz. Julian hat mir erklärt, dass die in der DDR damals Mahagoni hatten, weil sie es aus der sozialistischen Südsee importiert haben oder so.

Jedenfalls hat Julian sehr lange nach genau diesem Modell gesucht. Ich glaube, fast zwei oder drei Jahre, und schließlich hat er eins gefunden. Irgendwo ganz weit draußen an einem See in Brandenburg hat das einer verkauft, so ein etwas schmuddeliger Einsiedler, und bei dem haben wir beide es dann abgeholt, mit einem Anhänger, den wir extra angemietet haben. 500 Euro hat das Boot nur gekostet, wenn ich mich nicht irre, aber dafür war es natürlich in einem katastrophalen Zustand – überall Löcher drin und Risse, das Holz war verwittert und hässlich, ganz schlimm. Und dann hat der Julian den ganzen Sommer über daran gearbeitet und es restauriert. Jeden Tag hat er so richtig geschuftet, alles abgeschliffen, grundiert, lackiert, ausgebessert, neue Elektrik reingebaut und all das. Zeit hat er ja genug. Keine Ahnung, woher er das alles konnte, aber er hat sich einfach mal richtig in etwas reingesteigert und sich das im Handumdrehen selbst beigebracht. Bestimmt war es für ihn total schön, mal was mit den Händen zu arbeiten, etwas zu schaffen, was Sinnvolles zu tun. Jedenfalls liegt das Boot seither am Anleger hinter seinem Haus, und einfach alle, die den Julian kennen, wollen ihn ständig besuchen und auf den See hinausfahren, eben weil es so angenehm ist und so viel besser als in der lauten, engen Stadt, in der die Leute immer so schrecklich viel zu tun haben. Den ganzen langen Winter fiebern eigentlich alle nur darauf hin, dass es warm wird und Julian das Boot wieder ins Wasser lassen kann. In den letzten Jahren war das schon Ende März, wenn ich mich recht erinnere.