Verena Gotthard Lesung
WDW-Film
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TEXT Verena Gotthardt (A)

Verena Gotthardt liest auf Einladung von Mara Delius den Text „Die jüngste Zeit“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Das Bild schon verblasst, aber zeigt ein Wasser und den Ort an dem der Fischer, der ein Leben lang nicht schwimmen konnte, ertrank. Seine leichenstarren Beine noch im Boot, der Oberkörper übergebeugt und das schimmernde Wasser, wie es strahlt. Wenn alles ganz ruhig, kann man die Luftblasen im Wasser aufsteigen sehen. Uneinig darüber ob das die Fische oder nicht. Die Trauerweide am Rand des Schilfgürtels tief hinuntergebeugt – so wie der Leblose der schwarzen Erde immer näher.

Ein junges Mädchen, ganz Kind. Grüne Farbe hinter den Ohren und unter den Füßen. Läuft den Hügel hinunter und rollt und rollt. Kommt unten an, ganz erwachsen. Ihre Augen ganz groß. Sie leuchten. Bleibt vor einer Almhütte stehen. Nur kurz. Biegt ab auf den einzigen Weg und läuft und fliegt schon beinahe und bevor ihre Füße ganz von der Erde abheben, bleibt sie stehen. Springt die hölzernen Stufen hoch. Ihre kleinen Hände greifen nach der Klinke einer alten, grauen Tür. Und schon verschwindet ihr Körper im Dunkel der Hütte. Der Wind weht. Es ist warm. Es ist Sommer. Ist schon viele Jahre her, aber die Farben noch so kräftig. Zwei Hütten weiter. Zwei Gestalten, ein Greis mit seiner Greisin. Und wieder werden Äpfel geschält. Täglich der Weg von Hütte zur Holzbank. Kennen jeden und jeder kennt sie. Die Gesichter schon eingebrannt in das Bild der Alm. Denkt jemand an die Alm, sieht er auch gleich die faltigen Hände der beiden. Heute sitzt da keiner mehr. Stelle mir die Holzbank mit zwei leichten Einkerbungen vor. Ein genauer Blick auf den Teppich. Wiese, Wald, Greis und Greisin vor Hütte, eine Kuh. Sind für immer in einem Teppich eingewebt. Hängen an der Wand wie eine Fotografie. Daneben das Feuer. Der Herd schon eingeheizt. Das Wasser aufgestellt für den Tee. Und die Luft riecht ganz anders als unten im Tal. Hoch oben, die Luft auch viel leichter. Trägt man seine Lunge viel besser mit sich und die Beine, wie von selbst nach vorne und hinten tretend. Zwei Stöcke aus Holz. Jetzt noch und später zwei Stelzen. Die Kinderfüße treten auf und ab und die Sonne so heiß. Erinnert an den Süden. Die stehende Luft. Nach einem bestimmten Baum riechend. So, wie nur am Meer, wenn Salz und Wasser zusammen kommen.

Zwei große Hände auf der Schulter der Frau abgelegt. Werden mit den Jahren immer weicher. Starren vier Augenpaare leicht nach links. Den Kopf zur Seite geneigt. Unter einem Fingernagel noch die dunkle Erde vom Kartoffel ernten. Die Großmutter sitzt erstarrt auf dem Stuhl und ganz entschlossen. Hinter ihr der Großvater. Er auch ganz steinern, ganz er. Wenn der Hahn kräht oder die Glocken zur Mittagszeit läuten wird aufgestanden. Der Kopf gesenkt. Beten, für die Ernte, beten für den Regen, beten für das alltägliche Brot, beten für die Toten. In dieser Reihenfolge. Und in den Augen der Frau ein bestimmter Glanz. Vielleicht Hoffnung. Und in den Augen des Mannes ein bestimmter Glanz. Vielleicht Mut. Wird einschlafen in den nächsten Jahren. An der Wand im Wohnzimmer eingerahmt und aufgehängt. Neben dem Ofen. Das Bügeleisen auf dem heißen Herd. Und so als wäre es gestern erst gewesen. Das alte Schachbrett aufgeräumt und unter dem alten Holztisch verstaut. Nicht ein Mal wirklich gespielt sondern die Figuren willkürlich aufgestellt, weil man da noch Kind war. Der Turm in der ersten Reihe und die Bauern alle beim Namen genannt. Das Holzbrett schon ganz verbogen wie eine hügelige Landschaft. Und rollt und rollt, so wie das Mädchen die Wiese hinunter. Im Winter vor dem Haus mit dem vielen Schnee. Die Rodel hochgezogen auf den höchsten Hügel und dann schnell nach unten mit ganzem Gewicht. Schnell, schnell und über die Straße. Zuvor nur kurz nach einem Auto Ausschau gehalten. Gerodelt, gerodelt und stehen geblieben vor einem Baum. Die Großen, die Erwachsenen, die einmal Kinder waren im Kreis rund um die Wanduhr aufgehängt. Die Pendel vor und zurück. Wird nicht müde. Die warme Stube und die zwei starken Hände. Sichtbare, blaue Adern, aber heben die Enkelin hoch und auf den Schoss. Liebe, große Augen. Blau, wie das Meer, erzählen von den härteren Zeiten. Die Großmutter aber, eine stolze Frau, schweigt.