Hubert Winkels hält die Rede zur Literatur
ORF
ORF

Klagenfurter Rede zur Literaturkritik

Die „Rede zur Literatur“ hielt 2021 der ehemalige Juryvorsitzende Hubert Winkels. Hier finden Sie die Rede zum Nachlesen.

Dass die Literaturkritik ein Thema von allgemeinem öffentlichen Interesse ist, muss man in Klagenfurt bei den Tagen der Deutschsprachigen Literatur nicht eigens erklären. Im Großen und Ganzen ist es jedoch keineswegs mehr selbstverständlich. Die bildungsbürgerliche Idee, dass ein politisch engagierter oder zumindest informierter Bürger eines historisch-intellektuellen Hintergrundes bedarf, um starke Maßstäbe zum Verständnis tagesaktueller Informationen zu haben, verliert ihre Attraktivität; der Beitrag eigensinniger ästhetischer Ausdrucksformen zur Erschließung der Lebenswelt in ihrer enormen modernen Vielfalt mag noch anerkannt werden; dass aber die schönen Künste Erkenntnisroutinen unterbrechen, Standards der pragmatischen Vernunft in Frage stellen, dass sie auch nicht explikativen expressiven Äußerungen ein semantisches und syntaktisches Eigenleben zugestehen, dass sie allen gängigen Modellen der Welterklärung und Selbstverständigung mit Skepsis begegnen und aus dieser Skepsis heraus neue Verbindungen zwischen den Dingen und ihren Betrachtern erzeugen – schöne, intensive, magische –, und dass sie mit diesem ihrem ureigenen Tun den absoluten Anspruch der kommunikativ gut eingespielten rationalen Welterschließung zumindest momentweise als Sonderfall des menschlichen Erkenntnisprozesse in den Blick nehmen können, diese im Kern modern-romantische Verschiebung der kognitiven Weltorientierung wird beargwöhnt und führt die inspirierten Betreiber dieser Kunst eher an den Katzentisch der kulturellen Öffentlichkeit.

TDDL 2021 Rede Hubert Winkels

Die Berührung mit dem anderen, mit der fremd gewordenen Textur der Welt, die durch die Kunst hindurch möglich wird, im Glücksfall infektiös für den Betrachter und deshalb im Feuilleton exemplarisch erlebbar in der Arbeit der Kritikerin, ist im klassischen Informationsverarbeitungsprozess der Zeitung und des Hörfunks nicht mehr gefragt, sondern beargwöhnt; vom Fernsehen ganz zu schweigen, wo die Separierung der Kunst von der kulturell interessierten Öffentlichkeit ungleich weiter fortgeschritten ist. In diesem Zusammenhang eine Vignette, konkret das Thema Literaturkritik betreffend: Die einzige an ein größeres Publikum gerichtete deutsche Fernsehsendung, die ausschließlich Diskussionen über neue Bücher zeigt, verzichtet programmatisch vollständig auf Literaturkritiker.

Noch gibt es in den Medienhäusern Vertreter einer starken Bildungstradition, die sich des Rationalität überwölbenden oder modern: unterlaufenden Charakters der Kunst sehr wohl bewusst sind und zudem der Notwendigkeit, sich anderen Formaten und Darstellungsformen zu öffnen. Und damit meine ich unter anderem auch eine Einrichtung wie diese hier in Klagenfurt, die die Kunst mit der Kritik und mit der klassischen sowie der digitalen Medienwelt zusammenführt: das erstaunliche Medienphänomen einer live zugespitzten, performativ zelebrierten, also zwischen Schrift und Mündlichkeit oszillierenden progressiven Universalpoesie, um einen Begriff des romantischen Begriffsequilibristen Friedrich Schlegel zu verwenden, des Vordenkers einer rational gesteuerten, gleichwohl kunstreligiös animierten ästhetischen Erfahrung, für die er ironischerweise den Begriff der Ironie reklamierte. Und der aus dem Rezensieren, in der Praxis der Aufklärung noch eine anonyme Begutachtung von Büchern, das ‚Charakterisieren‘ machte, ein Herausarbeiten der Individualität, der Einzigartigkeit des literarischen Gegenstandes durch die Individualität des Kritikers.

Auf die Bachmann-Tage bezogen müsste man vom Zusammenspiel recht vieler Individualitäten von Texten und Kritiken sprechen. Zu den phantastischen Ergebnissen einer nunmehr fünfundvierzigjährigen Evolution des streng reglementierten Lese- und Diskussionsprozesses ‚Bachmann-Preis‘, gehört unter anderen die Möglichkeit, bei der Besprechung des literarischen Textes von einem expliziten Urteil abzusehen. Die diskursive Zusammenführung von sieben Stimmen mit je eigenem Ton, unterschiedlichen Argumenten und unterschwelligen Bekenntnissen, versieht den jeweiligen Text im Idealfall mit einer solchen Plastizität, dass ein abschließendes Urteil à la ‚Gefällt mir‘ oder ‚Gefällt mir nicht‘ gänzlich unterbleiben kann. Annäherungen, Begegnungen, Anverwandlungen, mit denen der Autor auch im negativen Fall unverletzt weiterarbeiten kann. Ich übergehe hier die in den Anfängen häufig diskutierten kritischen Fragen nach dem Wettbewerbs- und Ranking-Charakter des Bewerbs, seiner arenahaften Inszenierung usw. mit dem Hinweis, dass neben den Modifikationen die schiere Dauer, die Gewöhnung, der eingespielte Umgang mit der Situation deren Härten doch weitgehend abgemildert haben.

Politische Skalierungen

Natürlich ist der Bachmann-Preis auch eine Auskopplung aus der Zeitungs-, genauer der Feuilletonwelt. Doch mit einer selbständigen Weiterentwicklung seit den Zeiten, als die lauten Großkritiker der gehobenen Presse hier im Studio noch mit heftigen, stark am Thema orientierten apodiktischen Urteilen den Ton angaben, hat sich die Eigenkraft der literarischen Darstellung im Klagenfurter Lese- und Diskussionsformat immer mehr durchgesetzt. Das lässt sich vom Kulturjournalismus im Allgemeinen eher nicht sagen. Zwar hat der höchstrichterliche Kritikergestus an Attraktivität verloren, doch die politische Zweckorientierung hat sich nach einer Nachkriegsphase der nationalkulturellen Streitbarkeiten zunächst stärker in eine global orientierte Politisierung verstrickt, um heute in der Mikropolitisierung, der Kurzschaltung von privater und gruppenspezifischer Befindlichkeit mit universellen moralischen Ansprüchen, die Utopie eines Zusammenfallens von ästhetischen Ausdrucks- und sozialen Anerkennungsverhältnissen zu entdecken.

Begonnen hat die Verknüpfung des Politischen mit dem Literarischen bekanntlich mit der Entwicklung der kritischen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, als sich die räsonierende und kritisierende Aufklärung, bedingt durch produktions- und vertriebstechnische Medieninnovationen, die allen Alphabetisierten eine große Vielfalt von Druckerzeugnissen bereitstellten, aus den Lese- und Diskussionszirkeln herausbildete. Jürgen Habermas, der diesen bürgerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit mustergültig beschrieben hat, hat kürzlich auf die ihm gestellte Frage „Warum lesen?“ mit einem Essay geantwortet, der die Gegenfrage „Warum nicht lesen?“ zum Titel hat.

Das Besondere, ja Überraschende dieses Essays liegt weniger darin, dass Habermas auch auf die Folgen der dritten großen Medienrevolution der Neuzeit, der digitalen, eingeht. In der zunehmenden Durchsetzung der sozialen Medien erkennt er einerseits eine befreiende Kraft, weil diese nicht nur die passiv aufnehmende Teilnahme am öffentlichen Diskurs weiterführe, sondern nun auch jeden Einzelnen potentiell zum Sender mache, zum im großen Stil aktiv emittierenden Produzenten und Vermittler von Meinungs- und Sinnangeboten aller Art. Er erkennt allerdings in diesem Medienwandel auch eine Bedrohung des diskursiven politischen Raums, weil er die Enthemmung der öffentlichen Rede fördere, indem durch den weitgehenden Wegfall der wissenschaftlichen oder journalistischen Filter- oder Kuratorenfunktion eine Überschwemmung der Öffentlichkeit durch beliebige und unqualifizierte Interventionen möglich wird, eine moralische Entgrenzung des Sagbaren. Die politische Öffentlichkeit ist einer Deregulierung unterworfen, die die Teilnehmer von der sich im vernünftigen Räsonieren herausbildenden Anerkennung moralisch universeller Ansprüche entbindet. Doch ebendas gilt nach Habermas, dies die eigentliche Überraschung, gerade nicht für ihren Zwilling, die literarische Öffentlichkeit.

Transreflexive Mustererkennung

Mehrmals ist von der „eigentümlichen Autorität“ literarischer Werke die Rede, die sich im „beharrlichen Eigensinn“ gegenüber der „Indifferenz oder Ablehnung der Zeitgenossen“ bewährt. Zum Beispiel in der späten Wiederentdeckung Hölderlins. Es wird die „intrinsische Autorität von Werken der Kunst und Literatur“ betont und schließlich das Intaktsein der literarischen Öffentlichkeit durch die „unangetastete Autorität von zeitgenössisch anerkannten Schriftstellern“. Habermas anerkennt ein hierarchisches Gefälle zwischen Autor und Leser als eine besondere Auszeichnung des literarischen Feldes und stellt dem für den kontrollierten Diskurs geltenden Begriff Kompetenz die spezifische Kreativität des Künstlers gegenüber; dies sogar mit ironischem Verweis auf das Credo seines rheinischen Landsmanns Joseph Beuys, dass jeder Mensch ein Künstler sei. Diesen Schritt kann Habermas deshalb nicht ernsthaft machen, weil er sonst einen romantischen statt einen politisch-moralischen Universalismus propagieren müsste. Dessen Auftrag lautet bei Novalis kurz und bündig und ganz anti-habermasianisch: „Die Welt muss romantisiert werden.“

Die erkennbare Sehnsucht des Diskursethikers nach den befreienden Wirkungen der Kunst, vor allem der Literatur, bricht sich gleichwohl Bahn. So heißt es:

„Gegenüber der analysierenden Vernunft zerlegt die poetische Kraft der literarischen Darstellung ihren Gegenstand nicht unter allgemeinen Aspekten, sondern bewahrt diesem den holistischen Charakter seiner lebensweltlichen Einbettung. Das Proprium der Literatur ist das, was sich dem philosophischen Zugriff entzieht: Indem die Literatur vorprädikative Erfahrungen aus der Perspektive eines Teilnehmers über die Schwelle der Sprache hebt und zu Bewusstsein bringt, bleibt die Aktualität der jeweils besonderen und individuierten Lebensvollzüge intakt.“

Nimmt man den intellektuellen Schattenriss des Philosophen Jürgen Habermas als formbildend für die politische Öffentlichkeit in demokratischen Gesellschaften und damit auch für das politischer gewordene Feuilleton, dann wird das latent Subversive seiner Intervention erkennbar. Hier wäre ein Begriff wie ‚Selbstsubversion‘ hilfreich. Wenn er davon spricht, dass die Literatur ein im aktuellen Vollzug unausgesprochen präsentes und relevantes Erleben als Erinnertes über die Schwelle der sprachlichen Artikulation zu heben vermag, dann ist das noch nahe an der früher schon so bezeichneten Expressivität des Subjekts, die eher randständig neben der rationalen Diskursform existiert. Wenn er aber weitergeht und von der ‚Unterbrechung‘ spricht, vom ‚Außeralltäglichen’, nicht als Gegenstand der Literatur, sondern als „gelingende Darstellung eines Ungegenständlichen, das Vor-sich-Bringen eines ungegenständlich, aber unbezweifelbar Gegenwärtigen“, dann ist die Schwelle zu einer präreflexiven Sphäre überschritten, in der das Gegenwärtige, mit George Steiner zu sprechen, auch als ‚real presence‘ zu fassen wäre, als Anwesenheit eines Abwesenden. Dem wäre nicht allein rational reflektierend und investigativ, sondern intuitiv und regelentlastet zu begegnen; und damit offen für die plötzlichen, intensiven, verstrickenden Ansprüche des Gegenstands selbst. Was wäre das anderes als der Kern einer Semiologie der profanen Erleuchtung.

Von der religiösen Erfahrung eines Zusammenfallens von erhabener Darstellung und dem Rätsel des lebendigen Gottes trennt die hier beschworene ästhetische Erfahrung die ins Dingliche ragende Schönheit der Gestalt der Sprache selbst. Nur in ihrer beweglichen Erscheinung, in keinem fixierten Inhalt, keinem festgelegten Narrativ, keiner dogmatischen Regel wäre die insinuierte Herrlichkeit des anderen berührbar. – Das ist so gerade noch Habermas, in einer ästhetisch außeralltäglichen Fassung 2.0. Einen Sinn für solch hintergründiges Versprechen zu entwickeln könnte auch den Medienverantwortlichen helfen, die Zügel der publikumsorientierten pragmatischen Vernunft locker zu nehmen und den Feuilleton-Nomaden an den Grenzen der Plausibilität größere Freiheiten zu lassen. In der zur Kunst gehörigen Kritik der Kunst allemal.

Dämonenräumdienst

Die Angst des Feuilletons vor solcher Kunst und der damit genealogisch verknüpften Kritik hat ganz unterschiedliche Gestalt angenommen. Die Kunstkritik ist in dienende Funktion geraten, weniger den Kunstwerken und Büchern als vielmehr dem Publikum gegenüber. Die Klickzahlen der Online-Welt, in welche die Zeitungen und Rundfunkhäuser nach und nach einwandern, verstärken diese Tendenz entscheidend. Die augenfälligste, geradezu apotropäische Reaktion der Redaktionen auf die Zumutungen der Kunst und ihrer Diskurse ist der kulturtheoretisch aufgezäumte politische Essay als Feuilletonaufmacher. Das soll die Anschlussfähigkeit an die unterstellte Welthaltigkeit der anderen Ressorts und Darstellungsformen im Feuilleton und in der Zeitung überhaupt sichern helfen; ein Abwehrmittel gegen den befremdlichen Twist ins Ungekannte, der aller Kunst eigen ist. Das Zeitmaß des Aktuellen wird als Taktgeber installiert. Für religiös oder modern-romantisch gestimmte Leser verdeckt die Politik die paradoxe Zeitform des Unendlichen, wie sie der Kunst seit Baudelaire in den profanen Begegnungen des Alltags aufleuchtet. Für ästhetische Materialisten erscheint diese Kunst-Abwehr durch das politische Feuilleton als Totalisierung der digitalen Infosphäre auf Kosten des sinnlichen Eigenwerts der künstlerischen Gegenstände. Die historischen Spurengänger mit Sinn für Totengespräche erkennen hier den ‚Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit‘, um es mit einem Filmtitel von Alexander Kluge zu sagen.

Es gibt ja zurzeit eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den banalisierenden Tendenzen in Darstellung und Berichterstattung von Kultur im Radio. Sie nimmt ihren Anstoß wesentlich an der Schrumpfung der Sendeplätze. Viel wichtiger scheint mir eine Diskussion der Art und Weise des Umgangs mit den schönen Künsten. Die Kollegen der klassischen Musik machen es deutlicher noch als wir Literaturkritiker, wenn sie in ihrer Senderkritik, aktuell an WDR und RBB, mit deren anmaßendem und täuschendem Konzept des „erweiterten Kunstbegriffs“ ins Gericht gehen, den man polemisch auch den ‚um André Rieu erweiterten Kunstbegriff’ nennen könnte.

Positiv gewendet: Die Bewahrung eines Raums der anspruchsvollen Darstellung, von der Moderation über komplexen Sprachgebrauch und eine durchaus auch textmimetisch operierende Dramaturgie bis zum ausführlichen Zitat ist entscheidend. Den Kritikerinnen muss die nötige Zeit für die Begegnung mit den im Kunstwerk aufgehobenen Erfahrungen, mit der Eigenzeit, sei es der Musik, in unserem Fall der Fiktion, gewährt werden, sie müssen das Geheimnis, heute technisch verkürzt: das ´Betriebssystem´, eines Textes entschlüsseln können und eben auch dürfen, um dann in der Folge gerne auch ihre eigene Faszination zu Protokoll zu geben, mit Emphase als subjektivem Zusatz, aber eben nicht als Pseudoeigentlichkeit, die das Textgeschehen gefühlig verzerrt und narzisstisch überlagert. Die Formate vor allem müssen sich wieder ändern, die Art und Weise, wie der Zugang zur Kunst organisiert wird: weniger launige Gespräche, keine scripted interviews zwischen Moderator und Kritiker, weniger Autorengespräche, Zeit und Raum für das lesegenaue Sich-Einlassen auf das Textgeschehen, für die Philologie gewordene Text-Gnostik, für die ständige Verwebung des kognitiven Zugriffs auf Text und Welt mit ihrer auch mimetisch vorangetriebenen sinnlichen Darstellung und Erfassung.

Entstellte Narrative

Warum ist dieser Austausch, diese Kommunikationsform überhaupt wichtig, über die Ansprüche eines verstimmten Liebhabers hinaus? Neben der Beschwörung der kontemplativen Eminenz und den bereits angedeuteten Begründungen, die sich aus der ästhetischen und politisch-moralischen Funktionsgeschichte der Kritik ergeben, möchte ich zum Schluss eine spezielle Kreativitätskompetenz der Literaturkritik ins Feld führen, die sich aus ihrer innigen Vertrautheit mit dem narrativen Gewebe der Welt ergibt. Zwei gegensätzliche informationsverarbeitende Praktiken stehen sich in der digitalisierten Gegenwart gegenüber, wirken aber immer auch zusammen: die zahlenbasierte Algorithmik und die wortbasierte Narration. Der dystopische Blick erkennt in der ideologisch-narrativen Einkleidung einer fremdgesteuerten Funktionslogik der Gesellschaft, schon seit es Anti-Utopien gibt, die größte Gefahr.
Sie liegt als Bedrohungsszenario fast jeder Kritik der modernen Gesellschaft zugrunde. Narrative sind, mit Theodor Lessing gesprochen, sprachlich elaborierte Sinngebungen des Sinnlosen. Sie wirken auf der kleinsten Ebene der Begründung eines persönlichen Seufzers oder der politischen Verallgemeinerung einer privaten Zurücksetzungserfahrung über Rechtfertigungen kriegerischer Einsätze bis zur geschichtsphilosophisch plausiblen Herleitung der Gegenwart. Immer gelten vertraute interne Verknüpfungsregeln und eine dramaturgisch überwölbende Gesamtkonferenz. Beide schließen sie notwendigerweise an kulturell eingespielte Muster an, sonst entstünde keine suggestive Kraft, die jede biografische, gruppenbezogene oder nationale Erzählung und jede institutionelle Selbsterklärung und -rechtfertigung braucht, vom Börsengang bis zum religiösen Bekenntnis. Und nun, falls das für Freunde des Erzählens allein noch keine positive Einsicht ist, die gute Nachricht: Es gibt eine kulturelle Technik, die hier Einblick und entstellenden, gegebenenfalls zersetzenden Zugriff hat, über lange Zeit erarbeitet, immer weiter verfeinert, hoch differenziert und äußerst flexibel, im Kern von Sympathie getrieben: die Literaturkritik nämlich als Narrationskritik und damit zur gesellschaftlichen Allzuständigkeit erhoben – und damit zwingend auch zu deren genauem Gegenteil, der attraktiven Für-nichts-Zuständigkeit. Kein Grund für Identitäten!

Das muss für heute und in unserem Rahmen genügen, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Autorinnen und Autoren, liebe Kolleginnen und Kollegen. In den kommenden Tagen können Sie die uns deutenden Wesen so eigene und prägende Kreativitätskompetenz in Aktion erleben – und kritisieren natürlich. Welche Hochzeit der Konzentration, und auch: welch ein Vergnügen!