Wir sind dumm, doof und dämlich.
Wir sind zu nichts zu gebrauchen.
Wir sind komplett out of order.
Wir merken ja gar nichts.
Wir merken alles, aber trauen unseren Sinnen nicht.
Wir verstehen uns selbst nicht, würden aber auch nicht behaupten, dass es ein
Anrecht darauf gibt, sich selbst zu verstehen.
Wir halten nicht viel von uns.
Wir legen darauf auch keinen Wert.
Das kommt erst später, wenn wir bemerken, wie viel Zeit uns mehr oder weniger
bekannte Leute, Gruppen und Strukturen darauf verwenden, sich laut- und
leistungsstark gut zu finden.
Wir sind jederzeit bereit, diese Liste zu ergänzen.
Ach ja, wir gähnen.
Wir gähnen meinungsstark in die Fenster jener Wohnung hinein, in der wir vor
kurzem noch wohnten, aus der wir halbwegs charmant entmietet wurden.
So kann man das eigentlich nicht sagen, sagt Constanze.
Doch, sage ich, so kann man das sagen, auch wenn es falsch ist und tatsächlich
nichts daran charmant war. Sondern alles war unhöflich und beschissen,
luftnehmend, feige und brutal, aber ich will darüber nicht sprechen, weil ich gar nicht
weiß, wie ich darüber sprechen soll, ohne zu wiederholen, was schon tausendfach
gesagt wurde. Dieses Entmietungsproblem ist bestens bekannt, aber mir fehlen die
Worte, um es wie ein noch zu entdeckendes Territorium anzupreisen, dem man sich
neugierig und mit aller Entschiedenheit widmen möchte.
Wer will sich schon mit altbekannten Problemen abplagen.
Ich will damit nichts mehr zu tun haben.
Meine Akkulaufzeit beträgt 5%.
Ich muss abwägen.
Wenig später noch viel mehr als jetzt.
Gerade wirkt es, als müsste ich noch fast gar nicht abwägen.
Eine Frau von vierzig Jahren, sagt Constanze, muss vermutlich alles abwägen.
Ja, sage ich. Gerade bin ich noch voller Gratisproben und Werbeangebote für mich
selbst.
Aber gleich bin ich vorbei.
Wir ziehen uns an den Fensterbrettern hoch.
Ich mochte das Wohnen im Erdgeschoss ja nur bedingt, sage ich, ich hatte immer
Angst vor Einbrechern.
Gleich lachen wir uns darüber scheckig: Als ob es sich lohnte, Angst vor Einbrechern
zu haben. Unsere Angstimpulse haben die falsche Schule durchlaufen, unsere
Angstimpulse wurden auf die falsche Fährte gelockt.
Ja, wird Constanze dann sagen, die vollkommen falsche Fährte.
2
Gleich stehen wir mit unpassenden Ängsten vor schwindenden Brachen, in Malls und
auf Demonstrationen und stehen sowieso vor den Nachrichten wie Kühe im Wald.
In unserer ehemaligen Wohnung ist alles überformt. Mit ihren Schiebegardinen, Ikea-
Gemälden, Potpourri-Schalen und ihrer Ordnung erkennen wir sie nicht wieder.
Die Eigentümerin oder Mieterin stürmt in das Zimmer, in das wir gerade von draußen
schauen, das nicht mehr unser nahezu tanzsaalgroßes Wohnzimmer ist, sondern
eine Collage aus kleinen Regionen: die Dining-Situation, die Relax-Station, das
Heimkino-Areal etc. Die Bewohnerin klatscht in die Hände, als wollte sie Tauben
vertreiben.
Wir stemmen uns an den Fensterbrettern noch ein wenig höher und fliegen
schnatternd davon.
Dann springen wir im Freibad vom Startblock und schwimmen so, als pflügten wir
das Wasser um.
Immer ist zugleich zu viel Kraft da und zu wenig.
Ach ja, die Techniken des Maßhaltens und der goldenen Mitte.
Wir balancieren halbherzig oder unbarmherzig oder großschnäuzig oder kleinkariert
oder tollkühn auf einer glänzenden Strippe in übersichtlicher Höhe durch die Mitte.
Das Slackline-Ding kapierst du nie, ruft Constanze, da sind wir in der Boulderhalle,
meinen Kindern zuliebe, und ich stehe in diesen viel zu engen, stinkenden,
ausgeliehenen Kletterschuhen und schwinge mich bereitwillig von der Slackline und
falle kein bisschen und plumpse doch auf die Bodenmatte. Wir gehen durch dieses
gepolsterte Gelände wie Angehörige eines anderen Periodensystems, wir greifen
nach den Klettergriffen und entwickeln kurz Ehrgeiz. Ich denke die Muskeln derer, die
neben und über mir klettern, an meine Arme, lasse mich fallen, schaue an die dunkle
Hallendecke und rutsche in einen kurzen Schlaf.
Die Kinder klettern nach oben, zur Seite und zum Boden zurück und springen über
mich, als ich von den Alpen träume.
Wir bauen uns aus unseren Defiziten keinen Berg und steigen für den besseren
Überblick auf dessen Spitze.
Wir schaufeln uns immer ein Grab.
Wir hören damit irgendwann auf.
Darauf freuen wir uns schon.
Wir sind die proletarischen Prinzessinnen.
Wir schwingen die Reifröcke und klopfen uns den Staub von den Jeans. Wir sagen,
wenn jemand eine Monarchie braucht, dann sind das nicht wir, aber Prinzessinnen
sind wir trotzdem.
TEXT Heike Geißler (D)
Heike Geißler liest auf Einladung von Insa Wilke den Text „Die Woche“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.