Helga Schubert wurde von Insa Wilke eingeladen. Es ist für sie der zweite Anlauf zum Bewerb: 1980 scheiterte die Ausreise aus der DDR. 1987-1990 saß sie in der Jury der TddL – mehr dazu in Jurydiskussion Helga Schubert.
Bachmannpreis für Helga Schubert
Der Ingeborg Bachmannpreis 2020 geht an die deutsche Autorin Helga Schubert und ihren Text: „Vom Aufstehen“. Schubert zeigte sich über den Gewinn erfreut. Mit Laura Freudenthaler, Lydia Haider und Egon Christian Leitner sind auch drei Österreicher unter den Preisträgern.
In der Laudatio sagte Patin Insa Wilke, „Vom Aufstehen“ habe alle angerührt. Eine Frau liege im Bett und zögere das Aufstehen hinaus, ein klassisches literarisches Motiv, das Erinnern an die Mutter. 80 Jahre Leben, 20 Minuten Lesezeit – der Stoff hätte eine Geschichte der Katastrophe sein können, aber sie zeige, wie man Frieden mache. „Der Text lehrt das Lesen und das Leben, aber ohne zu Belehren.“ Sie danke für diesen Text.
TddL 2020 Preisvergabe
Preisträgerin zu Tränen gerührt
Die Klagenfurter Bürgermeistern Maria Luise Mathiaschitz gratulierte der sichtlich gerührten 80-jährigen Preisträgerin. Auf die Frage des Moderators, wie sie den Wettbewerb erlebt hatte, sagte sie, sie habe ihn vom ersten bis zum letzten Moment verfolgt. Glücklich sei sie über die digitale Veranstaltung gewesen, weil sie nicht nach Klagenfurt musste, denn sie pflege ja ihren Mann. „Trotzdem konnte ich beim Bewerb dabei sein.“ Sie habe von der Jury viel gelernt. Vor dem Fernseher habe sie gedacht, sie würde so nicht werten können, sie sei glücklich.
TddL 2020 Helga Schubert Lesung
Den Tränen nahe zitierte sie eine Dankesrede von Ingeborg Bachmann für das Hörspiel „Gott von Manhattan“, für das sie den Hörspielpreis der Kriegsblinden bekam: „Der Schriftsteller ist mit seinem ganzen Leben auf ein Du gerichtet“. Eigentlich wollte sie in Anlehnung ans Bachmanns Text „Das dreißigste Jahr“ ihren Bachmanntext „Das achtzigste Jahr“ nennen, wollte sich dann aber nicht so an die Jury „ranschmeißen“. Ein Verlag und eine Agentur hätten sie kontaktiert, sie sollte ihr Buchmanuskript beenden und es veröffentlichen. Derzeit lebt sie in einem Mecklenburgischen Dorf, soviel verrät die Autorin.
Deutschlandfunk-Preis für Lisa Krusche
In einer Stichwahl gegen Laura Freudenthaler setzte sich Lisa Krusche durch. Sie las auf Einladung von Klaus Kastberger den Text „Für bestimmte Welten kämpfen und gegen andere“ – eine dystopische Welt und Bilder eines Computerspiels, die Lob aber auch Kritik erntete. Vor allem Philipp Tingler hatte sich gegen den Text ausgesprochen – mehr dazu in Jurydiskussion Lisa Krusche.
„Wo sind wir den alle?“
Klaus Kastberger hielt als Pate die Laudatio: „In diesem heurigen Jahr stellt sich die Frage, wo sind wir eigentlich alle? Ich sage bewusst, hier in Klagenfurt, obwohl kaum einer wirklich hier ist. Aber was heißt dieses Wirklich noch, wo Sie uns alle vier Tage lang versammelt an einem Ort gesehen haben.“ Könnte das Virtuelle nicht auch ein Potenzial haben, zu den realen Problemen wie Klimawandel oder Armut beizutragen, darauf nehme auch der Text Bezug. „Könnte es nicht ein neues Miteinander geben. Sind wir noch in der realen oder schon in der virutellen Welt oder stecken wir alle in einer Lustigen Computersimulation?“ Er sei mit Lisa Krusche noch nie persönlich zusammengetroffen, ein Novum für seine Kandidaten, so Kastberger.
Der Leiter der Kultur des Deutschlandfunks, Ralf Müller-Schmid, gratulierte via Skype zum Preis.
KELAG-Preis für Egon Christian Leitner
In drei Wahldurchgängen (2. Wahldurchgang Leitner/Senkel/Freudenthaler) setzte sich Egon Christian Leitner gegen Matthias Senkel durch. Leitner las auf Einladung von Klaus Kastberger den sozialkritischen Text „Immer im Krieg“. In Form von einzelnen Geschichten berichtete er über Menschenschicksale im Sozialstaat. Für Philipp Tingler zu rigide und verstaubt, doch die übrigens Jurymitglieder fanden verteidigende Worte – mehr dazu in Jurydiskussion Egon Christian Leitner.
Klaus Kastberger sagte zu seinem zweiten Autor, dieser habe 1.200 Seiten in seinem Werk von drei Bänden geschrieben, ein Sozialstaatsroman, dessen vierter Band im Herbst erscheine. Er weise Leser in einer unglaublich rigiden Art auf Ungleichheiten im Sozialstaat hin, dass man hinschauen müssen. Das zentrale Wort sei das „so“, er stelle fest, wie es ist. „So, jetzt ist die magersüchtige Frau verhungert“, das „so“ zeigt sich auch heir: „So, jetzt hat Egon Christian Leitner einen Preis. So, jetzt haben Sie Ihren Preis und machen Sie, was Sie wollen“, so Kastberger ironisch zum Preisträger.
Werner Pietsch von der KELAG gratulierte zum „mutigen und gelungenen“ Text, der Teil eines großen Ganzen sei.
3sat-Preis für Laura Freudenthaler
Die Österreicherin Laura Freudenthaler, die von Brigitte Schwens-Harrant nominiert wurde, brachte ihren Text „Der heißeste Sommer“ vor – mehr dazu in Jurydiskussion Laura Freudenthaler.
Patin Brigitte Schwens-Harrant sagte in der Laudatio, wenn die Lippe verletzt werde, sei Lachen unmöglich, das Sprechen schmerze. Hitze setze Menschen und Natur zu, die Mäuse tragen Viren, es soll ihnen mit Gift an den Kragen gehen. „Es ist gut“, sagt das Ich, bevor das Feuer seinen Weg nimmt, angeheizt durch Vergehen des Menschen. Ist die Erde noch zu retten, was wäre dazu nötig? Ein Meer an Wahrnehmung, das fordere dieser Text radikal ein. „Poetik erweise sich hier als Frage der Ethik. Der Text ist eine Wucht, er verstört, erschüttert und ist behutsam, ein Sprachkunstwerk.“
Petra Gruber von 3sat gratulierte zum Preis. Sie hoffe, dass die Autorin sich freue.
Publikum votete für Lydia Haider
Der BKS Bank Publikumspreis in der Höhe von 7.500 Euro wird von der BKS Bank gestiftet. Er geht an die Österreicherin Lydia Haider. Sie las auf Einladung von Nora Gomringer den Text „Der große Gruß“. Die Lesung führte zu einem Tabubruch in der Jury, als Phillip Tingler zu Beginn die Autorin frage, was sie mit dem Text bezwecke. Er wurde von Juryvorsitzendem Hubert Winkels belehrt – mehr dazu in Jurydiskussion Lydia Haider.
Haider wird im nächsten Jahr für sechs Monate das Stadtschreiber-Atelier in Klagenfurt beziehen. Seit 2009 vergibt die Landeshauptstadt Klagenfurt am Wörthersee ein Stadtschreiberstipendium im Wert von 6.000 Euro an die Gewinnern. BKS-Vorständin Herta Stockbauer gratulierte und überreichte virtuell den Preis.
Dank vom scheidenden Juryvorsitzenden
Hubert Winkels als Juryvorsitzender hielt die Abschlussrede. Er dankte in diesem Jahr besonders den Machern. „Ein Großereignis Bachmannwettbewerb hat in dieser seltsamen Verfallszeit von Möglichkeiten gut kompensiert, was fehlt, nämlich das Liveereignis vor Ort. Was ich sehen konnte, war es eine bewegende technische Installation von eigenem, fast ästhetischem Rang.“ Er dankte der ORF-Landesdirektorin Karin Bernhard, dem technischen Leiter Klaus Wachschutz und Petra Gruber für 3sat. Besonderer Dank gelte Moderator Christian Ankowitsch, der alles koordinierte. Er dankte der Jury und den Autoren,“ trotz Streit und Auseinandersetzungen war es ein spannendes, dramatisches Ereignis.“
Karin Bernhard sagte in Antwort zu Hubert Winkels, es sei sein letztes Jahr als Juryvorsitzender. Sie dankte ihm für Empathie, Esprit und Gelassenheit. Im kommenden Jahr werde er bei der Eröffnung der Tage der deutschsprachigen Literatur 2021 die Rede zur Literatur halten.
Außergewöhnlicher Bewerb
Drei spannende Lesetage liegen hinter Autorinnen und Autoren, der Jury und dem Publikum, das via Onlinestream und auf 3sat live dabei war. Es war ein außergewöhnlicher Bewerb, nicht nur, weil alle Beteiligten bis auf den Moderator und den Rechtsbeistand CoV-bedingt nur von der Ferne teilnehmen konnten. Der technische Aufwand für den ORF war enorm, mussten doch sieben Juroren live zugeschaltet werden. Das in schwarz gehaltene Studio steht ihn krassem Gegensatz zum blendenden Weiß der letzten Bachmannjahre. Auch geschuldet der besseren Sichtbarkeit der Monitorbilder.
Die Lesungen wurden vorher aufgezeichnet, doch die Autoren waren ebenfalls von Zuhause optisch und akustisch dabei, um die Diskussionen über ihre Texte zu verfolgen und – wenn gewünscht – ein Schlusswort abzugeben. Pannen gab es weder bei der Eröffnung am Mittwoch noch an den drei Lesetagen.
Die gesamte Regie und technische Abwicklung erfolgte von Übertragungswagen auf dem ORF-Parkplatz aus, nicht zuletzt, um jedes gesundheitliche Risiko für die Mannschaft auszuschließen und damit die Sendung nicht zu gefährden.
Jury diskutierte über sich selbst
Die Jury mit zwei Neuzugängen – Brigitte Schwens-Harrant und Philipp Tingler – zeigte sich in diesem Jahr oft recht streitlustig. In kaum einem Jahr zuvor ging es, meist auf Betreiben von Tingler, um die Frage, nach welchen Kriterien die Jury die Texte bewerten solle. Das brachte dem Schweizer einige Belehrungen von Juryvorsitzendem Hubert Winkels ein. Manchmal war es schwierig, den Streitgesprächen zu folgen, da Jurymitglieder gleichzeitig sprachen, da war die Limitierung der Zuschaltung zu merken. Auge in Auge im Studio diskutiert und streitet es sich wohl leichter – besonders merkbar war dies am ersten Tag – mehr dazu in Erster Lesetag zeigte kampflustige Jury.
Erstmals gabe es heuer mit Julya Rabinowich und Heinz Sichrovsky auch Kommentatoren, damit der Studiogarten nicht ganz leer bleiben musste. Hier fanden spannende Pausengespräche und Diskussionen über Social Media statt, das eine immer größere Rolle beim Bewerb spielt.