Helga Schubert
ZDF/SRF/ORF/3sat
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TEXT Helga Schubert, D

Helga Schubert liest auf Einladung von Insa Wilke den Text „Vom Aufstehen“. Sie finden hier einen Auszug und einen Link zum gesamten Text als .pdf.

Auf, auf, sprach der Fuchs zum Hasen, hörst du nicht die Hörner blasen? So weckte mich meine Mutter früher, als ich ein Schulkind war. Sie stand an meinem Fußende und zog mir die Bettdecke weg.

Manchmal sang sie auch: Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal saßen einst zwei Hasen, fraßen ab das grüne, grüne Gras, fraßen ab das grüne Gras und dann: Bis dass der Jäger, Jäger kam und schoss sie nieder. Ich stellte mir das bildlich vor und vergaß immer wieder, dass es gut endet: Als sie sich dann aufgerappelt hatten und sie sich besannen, dass sie noch am Leben, Leben waren, liefen sie von dannen. Ich lag dann mit meinem Nachthemd im Ungeheizten, war froh, dass die Hasen doch noch lebten und stand schnell auf.

Wir frühstückten nicht zusammen; denn sie war schon fertig für ihren Weg zur Arbeit, hatte bis tief in die Nacht gelesen und wollte nur noch das abgezählte Geld von mir: Für ihre S-Bahnfahrt zur Arbeit und zurück. Ich hatte meine Verstecke für diese vier Groschen. Zwanzig Pfennige hin und Zwanzig Pfennige zurück. Ostpfennige. Auch für die Pfandflasche, die ich nach der Schule einlösen konnte: Für das Fahrgeld am nächsten Morgen.

Sie gab ihr Gehalt für Bücher aus; sie hatte im Krieg fast alles verloren. Nur die Handtasche mit einem Taschentuch und ich Fünfjährige waren ihr auf der Flucht geblieben.

Als ich nach dem Tod meiner Mutter ihre Wohnung mit über 10.000 Büchern zum ersten Mal allein betrat, um alles zu kündigen, aufzulösen, renovieren zu lassen, die Abstellkammer und der Keller waren bis zur Decke mit Kartons voller Papiere gefüllt, standen auf ihrem Sekretär noch die beiden Bronzeabgüsse von Ernst Barlach: Die Lesende und der Flötenspieler, etwas kleiner als die Originale. Sie hatte sie in Raten jahrelang abbezahlt. Als niemand Ansprüche stellte, nahm ich sie zu mir, beide versunken in ihr Tun, in ihrer eigenen Welt, der Welt der Bücher und der Welt der Musik. Vielleicht wollte meine Mutter, dass ich sie so in Erinnerung behalte. Dass alles Andere langsam verblasst.