Jurydiskussion Andrea Gerster

Die Schweizerin Andrea Gerster las auf Einladung von Hildegard E. Keller den Text „Das kann ich“ über Familienprobleme, Geheimnissse und der Schwierigkeit, damit umzugehen. Die Jury fand viele Kritikpunkte und war sich uneinig.

Julia und Mathias durchleben eine Ehekrise, während Großmutter Carla um des Enkels Till Willen eine Scheidung auf jeden Fall verhindern möchte. Beim Versuch der Schwiegertochter gut zuzureden, verletzt sie sich mit Absicht. Trotz des aufwühlenden Vorfalls holt Carla Till vom Kindergarten ab und mimt für ihn die fröhliche Oma.

Erster Tag Andrea Gerster

ORF/Johannes Puch

Andrea Gerster

Wilke findet Gefallen an der Biederkeit

Insa Wilke machte den Anfang. Bei diesem Monolog habe sie daran denken müssen, dass es vor Jahren schon in der Schweiz einen Text über Mütter gegeben habe, der für Drohungen sorgte, und erkannte gewisse Parallelen. Ihr gefalle an dem Text, dass er so bieder sei. Er sei konsequent geschrieben. Das passiv-aggressive Verhalten der Großmutter habe mit einer langen Identitätsfindung von Frauen zu tun.

Hubert Winkels stimmte dem zu, erkannte etwas von Stephen King in dem Text. Ein Horrorbild tauche auf, jedoch würde die Entwicklung zu langwierig sein. Was seine Aufmerksamkeit bekomme, seien die verschiedenen Rollenbilder, die die Großmutter annehme.

Laut Nora Gomringer sei das Rollenbild, das die Großmutter annehme, dadurch zu erklären, dass sie sich in gewisse Verhaltensmuster hineingezwängt fühle.

Die Umkehr der Rollenbilder fand auch Stefan Gmünder sehr interessant, aber der Text sei ein Opfer seiner Mittel. Er habe einen guten Fluss und Rhythmus, sei jedoch etwas zu gekünstelt.

Jury

ORF/Johannes Puch

Insa Wilke

„Schwierigkeiten mit der Erzählideologie“

Klaus Kastberger vermisste eine österreichische Note des Texts. Er habe „Schwierigkeiten mit der Erzählideologie“ des Texts. Ihm fehle der Kick. Das sei eine Geschmacksfrage, er möge aber diese Art des Realismus nicht.

Hildegard Keller befand, dieser Text habe es nach den vorherigen vier Texten des ersten Lesetages schwer. Ihr habe besonders gefallen, dass er eine selten geschilderte Perspektive biete – das Scheitern von Mutter Carla und Sohn Mathias. Die Art der Beschreibung habe ihr gefallen, die Mittel seien dem angemessen. Eine Frage könne sie klären: Die Mutter lebe in verschiedenen Rollenskripten. Als Mutter habe sie eine Rolle, als Großmutter habe sie eine Rolle, das Zentrale sei aber ihre Rolle als Schauspielerin. Als solche erfahre sie ein ähnliches Scheitern wie ihr Sohn. Diese Feststellung hiterfragte Nora Gomringer, die das nicht im Text erkennen könne. Hildegard Keller verstand den Einwand und räumte ein, es sei eine Geschmacksfrage.

Jury

ORF/Johannes Puch

Hildegard Keller war heiß

Telenovela für Wiederstein

Michael Wiederstein erkannte eine Telenovela, in der ein sozialer Clash schön auf den Punkt gebracht werde. „Da hat’s ein paar sehr, sehr feine Beobachtungen drin“, bekundete er sein Gefallen an dem Text.

Kastberger fragte sich, wo das Provokationspotential dieses Texts sei. Ihm komme er „in keinster Weise provokativ“ vor. Wilke entgegnete, es sei provokativ über Mütter zu schreiben, die immer noch als unantastbar angesehen würden. Es gebe wenige Texte, die die Mutter in der Rolle des Passiv-Aggressiven thematisieren würden. Laut Winkels gebe es gar nichts Passives, die Großmutter sei schlicht aggressiv. Dem widersprach Wilke. Winkels erkannte aber eine Parabel, die alte Erzählung sei hier modernisiert.

Jury

ORF/Johannes Puch

Klaus Kastberger

Für Gomringer fast zu unradikal

Gomringer gefiel der Text, das Ganze sei jedoch „fast zu unradikal“. Interessant finde sie die Figur der Julia, mit der sie sich identifizieren könne und deren Beschreibung auf die meisten seit den 1980ern geborenen Frauen zutreffen könne.

Winkels hingegen meinte, man wisse nichts über die Figur der Julia, sie werde bloß von der Großmutter charakterisiert. Wilke entgegnete, es gebe schon Fakten, denen man vertrauen könne, nur die Wertung der Figur sei eine Frage der Perspektive. Winkels‘ Meinung nach sei der Trick, dass niemand in dem Text auftauche, außer der Großmutter, in deren Perspektive man gefangen sei. Nichtsdestotrotz sei der Text langwierig. „Es ist tautologisch und nicht kritisierbar, was ich sage“, schloss der Juryvorsitzende die Diskussion mit einer humorvollen Note.