Jurydiskussion Corinna T. Sievers

Corinna T. Sievers las mit „Der Nächste, bitte“ einen Text über Sexphantasien einer Zahnärztin, die Männer verführt, die auf ihrem Behandlungsstuhl sitzen. Sie wurde eingeladen von Nora-Eugenie Gomringer.

Die Ich-Erzählerin gewährt Einblick in ihr Berufsleben als Zahnärztin, das maßgeblich von ihrem sexuellen Drang beeinflusst wird. Safer Sex und Verhütung spielen keine Rolle, wichtig sind für die Erotomanin einzig ihre Lust und deren Befriedigung. Die Angst vor Keimen, die Notwendigkeit von gegenseitigem Einvernehmen und Vereinsamung werden in der Erzählung im Präsens ebenso thematisiert wie die Unmöglichkeit vom promiskuitiven Verhalten abzulassen.

TddL 2018 Tag 2 Corinna T. Sievers

ORF/Johannes Puch

„Mutiger Text“

Hubert Winkels machte den Anfang: „Ein ungewöhnlicher Text für Klagenfurt“, ein sachlicher Text. Er sei mutig, weil er explizit das Begehren einer Frau benenne und in einer radikalen Perspektive verenge. Man kenne solche Texte eigentlich nur aus Männerperspektive, er wirke wie eine Umkehrung, aber dafür sei er zu abgekühlt. Wovon der Text lebe und weshalb er gut sei, sei die Sprachform. Das komme ihm vor wie der Berich an einer Akademie. Die Geschichte würde von Überschreitung handeln, Sex sei eine Ausschweifung, ein Abweichen von der Norm. Das so zu fassen in einer Sprache, die nichts durchschimmern lässt und Spannung erzeugt, das sei der Trick des Texts. Es stelle sich die Frage, wie man über Lust sprechen könne. Dieser Text wolle ihr quasi eine Falle stellen.

„Pose der Provokation“

Keller: Die Me-too-Debatte ist in aller Munde, sie reduziert die Frau auch oft auf die Opferrolle, hier sei die Frau eine Täterin. Der Text sei in sprachlicher Hinsicht von klinischer Sorgfalt, aber für sie nicht radikal genug. Er mache einen Mann zum Objekt, das gelinge auch. Die Sprache bleibe aber uneindeutig. Wichtig sei, dass sich das Subjekt nicht zum Subjekt mache. „Sie jagt, was sie jagen will“, aber da fehlt es an Radikalität. "Der Text bleibt stecken in der Pose der Provokation“.

TddL 2018 Tag 2 Hubert Winkels

ORF/Johannes Puch

Hubert Winkels

Stefan Gmünder, sagte hier sei eine Frau, die einen flachlege, sich die Freiheit nehme. „Das habe ich gemocht.“ Es sei die pornographische Kälte, die er sich mehr gewünscht habe. So wie er jetzt sei, würde sich der Text selbst immunisieren. Eigentlich möge er Texte, die Dinge auf den Kopf stellen, aber dieser Text sei nicht genug auf den Kopf gestellt.

Wilke: Text mit Handschuhen und Mundschutz

Insa Wilke: Ein Text der mit Handschuhen und Mundschutz geschrieben ist. Für mich handelt er nicht von Erotik. Am Anfang werde deutlich, was sie interessieren würde, das sei der Ekel. Das klinge beim Kolibakterium an, die „groteske Ausführlichkeit“, mit der Körper und Sex beschrieben werde. Es geht aber auch um Gefühl. „Ich glaube, man kann im Text benennen, wo es schiefläuft und wo nicht mehr konsequent durchgearbeitet wird“, das seien das Alter, die Erotik und die gesellschaftliche Konditionierung. Da gebe es eine Schwierigkeit, eine Steigung beizubehalten. Hier kippe der Text. Eine Antwort auf männlichen Sexismus sollte es ein, es werde aber eine Männerphantasie nachgeschrieben, „die Frau die es unbedingt will.“

TddL 2018 Tag 2 Michael Wiederstein Nora Gomringer

ORF/Johannes Puch

Wiederstein, Gomringer

„Lustig und gelungen“

Nora Gomringer stimmte Winkels zu: „Ich höre eher einer Rede zu, einem Erfahrungsbericht einer ungewöhnlich Liebenden.“ Man habe es mit einem Geständigen zu tun, es gehe um eine besondere Art der Liebe. „Die Sprechrolle spricht von sich als von einer Person, die liebt, egal wie es nach außen wirkt.“ Hannibal Lecter („Das Schweigen der Lämmer“) sagte, wir begehren, was wir täglich sehen. „Ich würde mir wünschen, dass es wilder wird“. Sie nahm auf Bezug auf „Fight Club“, auch darin gehe es um die Darstellung einer eigenwilligen Liebe. Eigentlich sei es eine Liebesgeschichte neben einer nicht funktionierenden Ehegeschichte. Sie frage sich, wie es weiter mit der Assistentin gehe, die offenbar gegen die Erotomanin arbeitet. Sie sehe eine „mächtige Sprecherperson“ und ortete drei Motive: eine Gottesanbeterin, die Ärztin und die Heilbringerin. „Immens lustige Geschichte“, „sehr gelungen“.

TddL 2018 Tag 2 Insa Wilke Stefan Gmünder

ORF/Johannes Puch

Wilke, Gmünder

Kastberger: Typisch für Porno

Winkels ortete drei theologische Begriffe an drei zentralen Stellen. Das Erhabene sei das, was sich dem Körper entziehe. Es sei eine Laborsituation, wo kontextualisiert werde, wie in jedem Experiment. Witzig finde er, dass der Text erst einmal geschluckt wurde und dass gerade bei diesem Text mangelnde Radikalität festgestellt wurde.

Klaus Kastberger sei die Form sehr aufgefallen, da es sich um ein dramatisches Setting handle. Vieles wirke fast wie Regieanweisungen. Die Perspektivierung gehe sehr nach außen, was typisch für den Porno sei. Der Text sei auch Zeugnis der Besessenheit der Perspektivierung. Er hatte das Gefühl, es gehe um eine Zahnärztin in die Martin Walser gefahren ist. Für ihn stellte sich die Frage nach dem Unterschied zwischen einer weiblichen Erotomanin und einem männlichen Macho. In den Traditionen, die vom Text aufgegriffen werden, habe die Autorin die Traditionen des weiblichen Porno und Werken wie Elrfriede Jelineks „Lust“ nicht aufgegriffen.

Da werde eine männliche Art auf Sexualität zu schauen appliziert und umgedreht. Theologische Aspekte habe er nicht gesehen. Mit der Bemerkung, er habe sich gefragt, was am Montag in Sievers‘ Praxis los sein werde, brachte er das Publikum zum Lachen. Winkels erkannte, dass Fragen des Begehrens immer in der Psychologie verankert seien, aber Sievert mache alles anders.

Wiederstein sieht Demütigung

Wiederstein nahm auf den Ekel Bezug. Für ihn gehe es eher um Demütigung. Der Text versuche eigenartige Liebe ins Spiel zu bringen,scheitere aber am Anamneseton. Man rede viel über das „man blaming“, hier sei es umgekehrt.

Wilke meinte, sie hätten hier wahrscheinlich lieber literarische Radikalität und nicht den Verstoß gegen Konvention. Das Heilige brauche die Entgrenzung, die jedoch dem Text fehle. Für sie sei der Text am Anfang witzig, man hätte literarisch viel daraus gewinnen können, aber es werde nicht durchgezogen und damit verpufft es. „Effekt ist etwas anderes als Radikalität“, stimmte auch Gmünder zu.

Für Keller war es ein posierendes Subjekt, das sie aber nicht mitnehme. Das Subjekt sei Platzhalter. Winkels widersprach und meinte es gehe darum, wie man über Sexualität sprechen könne. Seine Aufgabe habe der Text erledigt, er sei „well made“.

Kastberger: Hausbackener Text

Gomringer sah Intensität im Text. Man kenne solche Erzähler, eigentlich gehe es um Autoerotik und Selbstliebe, was es unmännlich mache, sei eine Stimme, die alles abschätzt. Die Erzählerin sehe ganz klar, welche Parameter rundherum mitspielen. Gomringer fand den Text sehr weiblich und ortete ein fehlendes Können der Jury zwischen Autorin und Erzählerin zu trennen.

TddL 2018 Tag 2 Kastberger Wilke

ORF/Johannes Puch

Kastberger, Wilke

Laut Kastberger sei das „ein hausbackener Text“, sprachlich habe er nicht viel Radikalität. Radikal sei die Zahnarztpraxis als Ort. Da dürfe es keine Flecken geben es müsse rein sein. Der Text sei begrenzt an diesem Ort. Nur das zu sehen und nur die Frau als Zahnärztin dort zu sehen, das überzeuge ihn. Es handle sich um eine enge Perspektivierung.

Gmünder sah es genauso wie Kastberger. Die Jägerin sei auch Unterwerferin und diesen Aspekt fand er interessant.

Keller jedoch empfand die Darstellung als „löchrig, mangelhaft durchgeführt, dünn“. Gomringer blieb bei ihrer Meinung und fand immer noch, der Text sei mit männlicher Kraft erzählt. Sie möge ihn immer noch. Während hier gegen den Effekt gesprochen werde, halte sie es für wertvoll einen Effekt auszulösen.

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