Burkhard Spinnen: Rede zur Literatur 2016

„Mythos, Schmerz, Erfolg und Amt“ lautet die Rede zur Literatur 2016, die der langjährige ehemalige Juryvorsitzende Burkhard Spinnen hält.

Mythos, Schmerz, Erfolg und Amt

Rede zur Literatur, Klagenfurt, 29.6.2016

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich danke zunächst den Veranstaltern ganz herzlich für die Einladung, in diesem Jahr die Klagenfurter Rede zur Literatur zu halten. Das ist zunächst einmal eine große Ehre, die ich sehr zu schätzen weiß. Vielen Dank aber auch dafür, dass ich nach einem Jahr der Pause wieder den Gedanken an den Wettbewerb eine Zeit lang mit mir herumtragen durfte. Es wird mir dabei helfen, niemals zu vergessen, wie das ist, auf Schritt und Tritt ein anstehendes Großereignis im geistigen Gepäck zu haben. In den letzten 15 Jahren habe ich immer im Frühjahr ein paar Wochen lang fremde Texte mit mir herum getragen, oder besser: die Eindrücke, die diese Texte bei mir hinterlassen hatten. Ich trug sie ins Wartezimmer des Zahnarztes, wo ich auf die dritte Wiederholung einer Wurzelbehandlung wartete. Ich trug sie in den Stau auf der Autobahn, zum Tatort am Sonntagabend und schließlich in schlaflose Nächte oder in meine Träume.

Rede Burkhard Spinnen

Sehen Sie, kaum fällt das Thema Bachmannpreis, komme ich, wen wird es wundern, auch schon ins Plaudern. Und tatsächlich war, als man mich zu dieser Rede einlud, mein erster Gedanke der, meine Zuhörer auf einen Trip durch meine Klagenfurt Erfahrungen mitzunehmen, so wie ein munter vor sich hin plaudernder Reiseführer. Eben eine große Tour durchs Nähkästchen eines Veteranen. Ich habe diesen Vortrag auch tatsächlich geschrieben, er umfasste im Nu 13 Seiten, tatsächlich habe ich ja so einige Erfahrungen in dem Wettbewerb gesammelt. Beinahe mehr Zeit als mit dem Schreiben verbrachte ich dann damit, den Vortrag auf elf Seiten zu kürzen, um meine Redezeit nicht zu überziehen. Ich erreichte das insbesondere dadurch, dass ich das Kapitel „geplante Abschaffung des Bachmannpreises“ auf seine Kerninhalte zusammenstrich, wonach es aber immer noch fünf Seiten füllte. Ich hatte meine Tour übrigens alphabetisch geordnet, um den Überblick nicht zu verlieren. Nach A wie Abschaffung wären B wie Bewerb C wie Castingshow gefolgt. Usw.

Vier Tage nach Fertigstellung der ersten Fassung meines Vortrags kamen mir Bedenken. Ich las den Text wieder durch. Nein, das waren durchaus keine Belanglosigkeiten, die ich da alphabetisch geordnet hatte. Eine große Touristentour durch Paris führt ja auch am Louvre und am Arc de Triomphe vorbei. Eigentlich war jedes Kapitel, nicht nur das Kapitel A wie Abschaffung, mit Herzblut geschrieben. Dennoch ging mir auf, dass ich eine Chance versäumen würde, wenn ich heute Abend mit Ihnen eine große Tour unternähme. Sie würden dann zwar viel zu sehen, bzw. zu hören bekommen, ich aber hätte die Möglichkeit vertan, so etwas wie den Kern oder die Quintessenz meiner Erfahrungen mit diesem Wettbewerb zu formulieren. Und wer weiß, ob diese Möglichkeit überhaupt einmal wiederkehren würde. Also habe ich meinen Vortragstext digital eingesargt, bin von vorne begonnen und halte heute Abend einen anderen Vortrag. Sein Titel lautet „Mythos, Schmerz, Erfolg und Amt“, der alte Untertitel kann bleiben.

Ich beginne gleich mit dem Mythos. Ich habe 1992 als Autor in Klagenfurt gelesen, von 2000 bis 2014 habe ich mit einem Jahr Unterbrechung der Jury angehört, seit 2008 als deren Vorsitzender. In diesen Jahren habe ich mich immer wieder gefühlt, als würde ich mit einem Mythos kämpfen, und das mit durchaus zweifelhaftem Erfolg. Dieser Mythos war 1992 schon fix und fertig, obwohl seine Schöpfer, die Gründerväter des Bachmannpreises, allen voran Marcel Reich-Ranicki, bereits nicht mehr aktiv an der Veranstaltung beteiligt waren. Acht Jahre später war der Mythos immer noch frisch und quietsch fidel, und er sollte es bleiben, leider.

Wie sieht dieser Mythos aus? Sie kennen ihn natürlich, es ist das Bild des Bachmannpreises, wie es in seinen ersten zehn Jahren geprägt wurde. Vor wenigen Jahren hat der Schriftstellerkollege Michael Köhlmeier genau an dieser Stelle in seiner Rede zur Literatur ein eindrucksvolles Bild der Veranstaltung in den achtziger Jahren gezeichnet, als die Diskussionen in der Jury gelegentlich den Charakter einer Literaturvernichtungsorgie annahmen. Damals konnte oder musste gar der Eindruck entstehen, die literarische Kritik hier in Klagenfurt überwölbe nicht nur ihren Gegenstand, die Literatur, sondern setze sich sogar an ihre Stelle, was Gewicht, Macht und Attraktivität betrifft.

Ich selbst habe das, obwohl ich als lesender Autor nun wirklich dafür sensibilisiert war, schon 1992 nicht mehr so erfahren. Und vom Jahr 2000 an habe ich alles in meiner Macht stehende zu tun versucht, um die Diskussionen sachangemessen, respektvoll und moderat zu gestalten. Aber ich habe bis heute das Gefühl, den Mythos nicht wirklich überwunden zu haben. Genauer gesagt, die Diskussionen hier in Klagenfurt konnten noch so angemessen und respektvoll ausfallen, es änderte nichts daran, dass ich draußen im Land immer wieder auf Menschen traf, die mir entweder vorwarfen, dass ich an dieser scheußlichen Vernichtungsorgie teilnehme, oder sich darüber beschwerten, dass neulich mal wieder nicht laut und heftig genug vernichtet worden sei. Gut, nicht alle Diskussionen sind so abgelaufen, wie ich es mir erträumt hätte. Nicht alle meine eigenen Beiträge waren ein adäquater Ausdruck meiner Ansichten, und manchmal waren meine Ansichten auch schwach und vage. Aber im Großen und Ganzen, so dachte ich immer, haben wir Respektlosigkeit gegenüber den Lesenden, selbstverliebtes Säbelrasseln der Kritik und blinden Vernichtungsrausch vermieden.

Doch ich fürchte, oft genug war der Mythos stärker als die Realität. Viele Leute sahen ihn, auch wenn es sich gar nicht zeigte, und wenn sie ihn nicht sahen, forderten sie ihn. Das ging einmal so weit, dass eine literaturinteressierte Zufallsbekanntschaft in einem Berliner Café mir vorwarf, ich hätte unlängst meine eigene Kandidatin im Stich gelassen und verraten. Ich setzte mich zur Wehr, ich machte darauf aufmerksam, dass Verrat zu üben ein äußerst schwerer Vorwurf ist, den man sich gut überlegen sollte. Doch mein Gegenüber beharrte darauf, und am Schluss war ich so verunsichert, dass ich mir vom ORF die Aufzeichnung der Jurydiskussion kommen ließ, um mein damaliges Verhalten noch einmal zu prüfen. Tatsächlich hatte ich nun wirklich nichts gesagt, dass man als Verrat hätte auslegen können. Aber ich hatte wohl auch nicht so agiert, dass jemand, der den Verrat schon erwartete, ihn nicht wahrnehmen konnte.

Nun ist es eine Eigenschaft des Mythos, Positives und Negatives in sich aufzuheben, ja ununterscheidbar zu machen. In dem Berliner Café hatte man mich für Vernichtung und Verrat verachtet, die ich nicht begangen hatte. Anderswo hingegen warf man mir vor, zu sanft und zu nachgiebig gewesen zu sein, sei es zu den Texten oder den anderen Jurymitgliedern. Wenn ich dann darauf hinwies, dass ich durchaus meine Meinung gesagt oder über meine Schwierigkeiten gesprochen hatte, bei dem betreffenden Text zu einem Urteil zu finden, ließ man das nicht gelten. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich kann tun und sagen was ich will, man wird es mir entweder als Arroganz und Unmenschlichkeit oder als Drückebergertum und Arbeitsverweigerung auslegen. Der Mythos von der Vernichtungsschlacht in Klagenfurt ist am Ende immer stärker als die Realität.

Nun glauben Sie mir bitte, meine Damen und Herren, es ist kein Spaß, aussichtslose Kämpfe zu führen, erst recht nicht gegen einen Mythos. Ich habe das dennoch getan, 15 Jahre lang. Ich bin, wie man so sagt, nicht müde geworden, obwohl ich dabei tatsächlich müde geworden bin, die Regularien in Klagenfurt ebenso wie die Praxis zu verteidigen. Nach wie vor ist nämlich meines Erachtens das Zustandekommen des Bachmannpreises ein stimmiges Abbild des Vorgangs, in dem literarische Texte zur Wertschätzung gelangen. Der Bachmannpreis ist kein Literaturpreis wie alle anderen, bei denen die Begründung der Preisvergabe immer erst nachgeschoben wird, zumeist in wenigen wohlgesetzten Worten, die sich gleichermaßen selbstverständlich wie unanfechtbar gerieren. Diese konventionellen Jurybegründungen werden den ausgezeichneten Texten nach- und aufgesprochen, ohne dass man erfährt, wie sie zustande gekommen sind. Es entsteht dann leicht der Eindruck, sie gingen mit überpersönlicher Notwendigkeit aus dem Werk hervor.

Natürlich ist das in Wahrheit nicht der Fall. In jeder Jury wird gezankt. Die Entscheidungen sind umstritten und kommen, genau wie in Klagenfurt, oftmals nur durch Kampfabstimmungen zustande, in denen, wie Sie wissen, auch schon einmal Unerwartetes geschehen kann. Literarische Texte sind nun einmal keine selbstgenügsamen Gebilde, die ihre Qualitäten unwidersprochen in sich tragen. Sie entfalten sich vielmehr zur Gänze erst in der Lektüre und in der Reflexion. Was auch bedeutet: Sie falten sich tendenziell unendlich auf, je nach Anzahl und Charakter ihrer Rezipienten. Und genau daher schätze ich den Bachmannpreis, denn hier wird exemplarisch vorgeführt, wie die Einschätzung und Bewertung eines literarischen Textes entsteht, zum Beispiel im Durchgang durch eine Diskussion unter verschiedenen Rezipienten. Man kann hier in Klagenfurt oder am Fernseher, beispielhaft, einer solchen Entfaltung eines literarischen Textes beiwohnen, ja, in gewisser Weise sogar seiner Entstehung, wenn man denn seine Rezeption als einen integralen Bestandteil des Werkes begreift.

Doch wohlgemerkt, ich sagte exemplarisch. Denn die Diskussionen hier gebären ja keineswegs etwas, das imstande wäre, sich als ein allgemein gültiges, auf ewig unwidersprochenes Urteil aufzuspielen. Oh nein, im Gegenteil! Sie zeigen vielmehr die Schwierigkeit des Beurteilens überhaupt. Der an genervte Dauerkommentar in der Presse dazu lautet: „Die Jury war sich wieder einmal nicht einig.“ Doch genau deshalb stimulieren die Diskussionen den Zuschauer oder Zuhörer, in den Pausen zwischen den Lesungen oder nach der Veranstaltung die Debatten fortzusetzen, was natürlich heißt: in seinem Sinne zu führen. Das ist, wenn ich das einmal so frei heraus sagen darf, ein im Grunde ganz großartiges Konzept. Es ist meines Erachtens der literarischen Urteilsfindung höchst angemessen, viel angemessener jedenfalls als die Jurysitzungen hinter verschlossenen Türen, die ansonsten den Preisverleihungen vorangehen. Die Diskussionen hier in Klagenfurt zeigen, wenn auch immer wieder äußerst schmerzhaft, dass es für Literatur als Kunst keine allgemein verbindlichen, abstrakten Bewertungsraster gibt, die man einfach über den Text legen könnte, so wie Deutschlehrer sie über die Klassenarbeiten ihrer Schüler legen.

Die Diskussionen zeigen aber auch, dass die Beurteilung eines literarischen Textes keine Frage des schieren Beliebens ist. Es gibt Argumente, die zutreffender und besser sind als andere. Und, nicht zu vergessen, es gibt die vom Autor oder der Autorin vermittelte körperliche Präsenz des Textes, seine Aura, die vielfach kaum in Worte zu fassen ist, dafür aber womöglich schwerer wiegt als so manches Argument. Ich finde es daher auch sehr angemessen, wenn am Ende des Wettbewerbs hier in Klagenfurt eine unkommentierte Abstimmung steht. Das Ringen um ein Geschmacksurteil mündet in ein demokratisches Verfahren. Das wirkt vielleicht etwas komisch, aber es ist der angemessene Ausdruck eines Dilemmas, für das es keine einfache Lösung gibt.

Aus all diesen Gründen habe ich es so falsch und ungerecht empfunden, dass der Mythos von der Vernichtungsschlacht noch immer existiert und an der real existierenden Veranstaltung zieht und zerrt. Römische Arena! Daumen rauf, Daumen runter! Do or die! To be or not to be! Sekt oder Selters! Die blutige Abstrafung und Abschaffung von Literatur, gemildert allenfalls durch die Entdeckung eines literarischen Superstars pro Saison. Dergleichen musste ich immer wieder hören. Vor einem Jahr war ich bei meiner Universität in Münster in ein germanistisches Seminar zum Thema Literaturvermittlung eingeladen, wo es unter anderem um den Bachmannpreis ging. Die Professorin sprach in ihrer Einleitung zu dem Seminar von der Demütigung und Instrumentalisierung der in Klagenfurt lesenden Autorinnen und Autoren, als spräche sie von den Auftritten überrumpelter Jugendlicher in den Castingshows im Fernsehen. Ich hätte eigentlich aufstehen und gehen sollen, bin aber geblieben und habe erklärt. Ich habe die Professorin nicht einmal gefragt, ob sie dem Wettbewerb je zugesehen habe. Ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass Erklärungen oft genug nicht helfen. Im Gegenteil. Wie sagt mein Hausheiliger Doktor House: People don’t change. Die Leute wollen sich ihre Meinungen nicht verderben lassen.

Apropos Castingshow und Superstar. Ich habe in den vergangenen 15 Jahren meine Gesprächspartner immer wieder daran erinnert, dass der Bachmannpreis schon hoch in seinen zwanziger Jahren war, als im deutschen Fernsehen die Castingshows ihren zweifelhaften Siegeszug begannen. Aber es ist und bleibt ein Kreuz: Seit „Deutschland sucht den Superstar“ oder verwandter Formate, deren Schöpfern ich hier frank und frei die Pest an den Hals wünsche, seit der nicht enden wollenden Reproduktion solchen Medienschrotts existiert all das in permanenter, schmerzlicher Realpräsenz, was den alten Mythos von Klagenfurt ausmacht: die Instrumentalisierung von Talenten, die Respektlosigkeit gegenüber den Anstrengungen anderer, Schadenfreude, nicht zuletzt die Inszenierung einer eitlen, selbstverliebten und selbstgefälligen Kritik. Ich fürchte manchmal, dass der Mythos von Klagenfurt in den letzten 15 Jahren aus der Realität der Castingshow genau die Lebenskraft gezogen hat, die ihm die Realität der Veranstaltung eigentlich hätte nehmen müssen.

Meine Damen und Herren, ich selbst kann schlecht beurteilen, was genau mein persönliches Bemühen, den alten Mythos von Klagenfurt zu besiegen, gefruchtet hat. Ganz sicher hat es zum Beispiel nicht verhindert, dass die Vernichtungsorgie, wenn sie hier im ORF Theater unterblieben war, an verschiedenen Stellen im Feuilleton regelmäßig nachgeholt wurde. Jedes Jahr habe ich dort irgendwo lesen können, dass die Auswahl der Texte in toto miserabel war. Konkret heißt das für den Juror, dass er bei seiner womöglich wochenlangen Arbeit, aus vielleicht 200 Texten zwei auszusuchen, schwer gepatzt hat, weil ihm die anderen Texte, die besseren, die doch sicher im Stapel lagen, entgangen sind. Ich weiß nicht, ob die betreffenden Kritiker wissen, wie schwer so ein Vorwurf wiegt. Womöglich ahnen sie nicht, wie schwierig so eine Arbeit ist, wie sehr sie jedes Urteilsvermögen überfordern, ja, dass sie einen sogar an den Punkt bringen kann, an dem man jedes Urteil für unmöglich hält. Auch der Anspruch, vor laufenden Kameras intelligent, präzise, analytisch, geistreich und natürlich unterhaltsam und humorvoll zu sprechen, ist, ich sage einmal: ein hoher Anspruch. Nun sind gelegentlich Kritiker der Elche selber welche, pardon, sind Kritiker Juroren geworden. Ich denke, die betreffenden Damen und Herren haben bei dieser Gelegenheit erfahren, wie schwer der Job tatsächlich ist.

Allerdings muss ich auch einräumen, dass ich am Schluss eher bereit war, mich mit den habituellen, oder sollte ich sagen folkloristischen Verrissen des Wettbewerbs im Feuilleton zu versöhnen, womöglich einer der wenigen positiven Nebeneffekte des Älterwerdens. Nicht, dass es im Laufe der Zeit weniger weh getan hätte, sich immer und immer wieder sagen zu lassen, man habe ohne Not seine Arbeit schlecht gemacht. Aber ich glaube, ich habe allmählich eingesehen, dass es womöglich zum sinnvollen Funktionszusammenhang des Bachmannpreises gehört, wenn man dem mühsamen Alltag der literarischen Urteilsfindung immer wieder die Überzeugung entgegenhält, es sei im Grunde alles ganz einfach, solange man nur Augen und Ohren aufhält und den gesunden Menschenverstand einschaltet. Genauer gesagt: Wenn man sich nur ein bisschen Mühe gibt, dann ist es kein Problem, Jahr für Jahr 14 bislang unbekannte Genies mit 14 außerordentlichen Texten einzuladen, über die dann geistreich zu diskutieren keiner Anstrengung mehr bedarf, da sich die guten und wertvollen Gedanken beim Reden allmählich selbst verfertigen. Es ist wohl einfach die Aufgabe des Feuilletons, dieses große Ideal immer wieder im kleinen Alltag aufzubauen. Utopien sind Orte oder Ziele, die sich dadurch definieren, dass man sie nicht erreichen kann. Nichtsdestoweniger gerät man ohne Utopie in die Orientierungslosigkeit. Man muss wissen, wohin man will, auch wenn man dort niemals ankommt. Ich für mein Teil muss allerdings bekennen, nicht ganz unglücklich darüber zu sein, dass von mir persönlich jetzt nicht mehr erwartet wird, Utopien einzulösen, sprich: Wunder zu tun. Zumindest nicht hier in Klagenfurt.

Und damit komme ich zum Schmerz. Das heißt: Von meinem Schmerz war hier schon mehrfach die Rede; jetzt meine ich den Schmerz der Autorinnen und Autoren, die hier ihre Texte präsentieren. Im Gegensatz zu den meisten Jurymitgliedern, mit denen ich im Laufe der Zeit diskutieren durfte, habe ich selbst einmal da vorne gesessen und vorgelesen. Und ich habe es im Grunde immer schon geahnt, von Jahr zu Jahr aber habe ich es mehr erfahren, geradezu körperlich, dass keine noch so große Sachlichkeit und kein Respekt am Ende den Schmerz ganz lindern können, den es einem Autor oder einer Autorin bereitet, wenn ihr Text gerade von denen abgelehnt wird, deren positives Urteil sie erhoffen.

Gestatten Sie mir den Vergleich: Texte sind wie Kinder. Im Idealfall entstehen sie aus nichts als Liebe und Hoffnung. Man hegt und pflegt sie, man will ihnen alles mitgeben, was man weiß; doch irgendwann ziehen sie hinaus ins Leben, weil sie das müssen und weil man auch als Eltern nichts anderes will. Und wenn die Kinder dann den Gefahren des Alltags ausgesetzt sind, wenn sie sich bei anderen Menschen erfolglos um Anerkennung bewerben, dann leiden die Eltern. Zunächst leiden sie, weil sie ihre Kinder doch so lieben und ihnen das Beste wünschen, und dann leiden sie noch einmal, weil sie ihnen nämlich jetzt kaum noch helfen können. Man kann das natürlich nennen, selbstverständlich und unausweichlich; weh tut es dennoch. Wer Kinder hat, der weiß es. Wer Texte schreibt, weiß es auch. Ich habe es selbst erfahren, und ich habe es hier in Klagenfurt gewissermaßen sympathetisch erfahren, wenn ich mit den von mir vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten ihre Lesungen und die anschließenden Diskussionen durchgestanden habe. Die Erfahrung, dass etwas Geliebtes oder Geschätztes von anderen, womöglich sogar von Leuten, die man selbst achtet und schätzt, überhaupt nicht geschätzt und erst recht nicht geliebt wird, gehört zu den zentralen Erfahrungen beim Bachmannpreis. Man kann daran verzweifeln. Vielleicht kann man diese Erfahrungen aber auch als Demutsübung begreifen, als Einübung in die schmerzliche Realität einer Welt, in der mit großer allgemeiner Billigung das Individuelle herrscht, was aber auch oft genug bedeutet, dass einer des anderen Sprache nicht versteht.

Und damit zu meinem dritten Thema, dem Erfolg. Der Bachmannpreis ist ein Wettbewerb, und ein Wettbewerb ist: ein Wettbewerb. Das heißt, man nimmt daran teil, um Erfolg zu haben, also um zu gewinnen. Das ist zunächst einmal vollkommen legitim. Menschen tun das, seit unvordenklichen Zeiten, weil sie ehrgeizig sind und weil der Erfolg ihnen Freude bereitet. Die Freude am Erfolg rührt heute meines Erachtens vor allem daher, dass man beachtet wird, geachtet, dass man sich aus der Menge heraushebt. Wir sind uns heute nicht mehr sicher, dass ein Gott uns kennt und auf uns herunterschaut; daher sind wir unserem Seelenheil mehr und mehr darauf angewiesen, dass andere zu uns herüber oder sogar zu uns empor schauen. Ich habe diese Freude über die Aufmerksamkeit und die Anerkennung hier mehrfach deutlich empfunden und genossen, eben wenn ein von mir vorgeschlagener Text auch anderen Juroren, Zuhörern und Kritikern gefiel oder gar eine Mehrheit an Stimmen in der Jury fand. Das waren Momente, die ich nicht missen möchte.

Dennoch rate ich zur Skepsis gegenüber dem Begriff Erfolg im Kontext von Kunst und Literatur. Wer ist denn der erfolgreichere Autor? Der arme Friedrich Hölderlin, der von den Zeitgenossen für verrückt erklärt wurde, oder Christian August Vulpius, der Schwager Goethes, der mit seinem Räuberroman „Rinaldo Rinaldini“ einen großen zeitgenössischen Verkaufserfolg verbuchte? Sind Dan Brown und Joanne K. Rowling erfolgreicher als Paul Celan oder Günter Eich? Wir schielen in unserem demokratischen Alltag mittlerweile beidäugig und überall auf Mehrheiten, sprich auf Quantitäten; und wir messen Quantitäten am liebsten in Euro und Cent. Im Bereich der Kunst sind solche Sichtweisen allerdings nicht immer angemessen, um es einmal ganz vorsichtig zu formulieren.

Der Gewinn des Bachmannpreises schadet nun sicher nicht, er generiert Aufmerksamkeit, er kann die Hoffnung bestärken, auch in Zukunft als Schriftsteller leben zu können, von der segensreichen Wirkung des Preisgeldes ganz zu schweigen. Aber letzten Endes ist der Erfolg in Klagenfurt nur ein kleiner Baustein im komplexen und vielgestaltigen Gebäude einer künstlerischen Existenz. Und zu deren Grundpfeilern gehört meines Erachtens neben den messbaren Erfolgen vor allem die sich dauerhaft entwickelnde und verstärkende Kraft, der eigenen Vision von einem gelungenen Kunstwerk einen adäquaten Ausdruck zu schaffen.

Dazu kann es aber auch gehören, sich einmal ganz frei zu machen vom Geschmack, von den Wünschen, Vorstellungen und Regeln der anderen. Ich weiß, es ist aktuell schwierig, speziell von der Literatur den Normenbruch, die revolutionäre Veränderung, die totale Innovation zu fordern. Die Avantgarde des 20. Jahrhunderts hatte sich am Ende in das gemütliche Reservat des Experiments zurückgezogen. Heute scheint es, als sei besonders im Formalen bereits alles ausprobiert, ja durchexerziert worden. Aber auf stumpfe alte Messer verzichten zu müssen, heißt nicht, keine neuen zu schleifen. Dürfte ich dem Bachmannpreis etwas wünschen, dann wünschte ich ihm in Zukunft mehr riskante Texte und die Bereitschaft der Juroren und Juroren, deren Risiko mit zu tragen. Ich weiß sehr gut, wie groß die Versuchung ist, Texte auszusuchen, die das Potenzial zum größten gemeinsamen ästhetischen Nenner haben. Und ich weiß, wie bitter es ist, mit einem riskanten Text dramatisch zu scheitern und damit womöglich die eigene Reputation aufs Spiel zu setzen. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass es auf Dauer die beste Überlebensversicherung des Bachmannpreises sein wird, wenn er das Risiko der Kunst über den Tageserfolg stellt.

Mythos, Schmerz, Erfolg und Amt. Ich schließe mit dem Amt. Jedes Jahr war es wieder sehr anstrengend, Juror beim Bachmannpreis zu sein. Geschenkt. Es war immer noch besser und schöner als tausenderlei anderes. Manchmal war es auch lustig, vor allem in meinen ersten Jahren als Juror. Ich erinnere mich besonders an Abende mit Denis Scheck, bei denen unsere Gespräche weitschweifige Expeditionen ins Terrain der verantwortungslosen Albernheit unternahmen. Später aber wurde es, jedenfalls um mich herum, immer ernster. Wahrscheinlich lag es an meinem Amt als Vorsitzender der Jury, vielleicht auch an der damit verbundenen traurigen Verpflichtung, mir in den vielen Abschaffungsdebatten immer neue Feinde zu machen. Zudem durchwebte zunehmend eine gewisse Melancholie meine Anwesenheit hier in Klagenfurt; schließlich konnte ich mein erstaunlicherweise unaufhaltsames Älterwerden hier noch besser als anderswo beobachten. Ich war 1992 als einer der Jüngsten hierher gekommen, als Debütant, als jemand, der gerade erst einen Schritt in die Welt der Literatur gesetzt hat. Acht Jahre später hatte sich vieles verändert, doch bislang hatte ich noch alle Veränderungen gutgeheißen. Seitdem mischte sich allerdings in jede Veränderung der äußerst schmerzliche Anteil des Älterwerdens. Ich hoffe, ich bin noch rechtzeitig aus dem Amt geschieden, bevor ich im Amte zum Amtmann und also zu Stein geworden bin. Ich bin guten Mutes. Jedenfalls stehe ich jetzt wieder vor ihnen und lese ihnen elf DIN A 4 Seiten vor, so zittrig und nervös wie vor 24 Jahren. Diesen Satz habe ich vor zwei Wochen geschrieben, ich hätte ihn jetzt weggelassen, hätte er nicht gestimmt.

Ich danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit, der langen Riege von Veranstaltern für ihre wiederholten Einladungen und ihr Vertrauen, der kaum minder langen Riege von Jurorenrinnen und Juroren für die ganz überwiegend kollegiale und oft sogar ausgesprochen herzliche Zusammenarbeit. Schließlich danke ich meinen, wenn ich richtig gezählt habe, 29 Kandidatinnen und Kandidaten dafür, dass sie mich zum Anwalt ihrer Texte gemacht haben. Ich habe es gerne getan. Ich hoffe, sie behalten, so sie irgendwie können, unsere gemeinsamen Auftritte hier guter Erinnerung. Ich werde es tun.

Ach ja, und noch etwas, das Ihnen, meine Damen und Herren, gilt: Bitte vergessen Sie nicht, morgen früh, wenn die Lesungen beginnen, ihre Handys auszuschalten. Vielen Dank.

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